Lit.Cologne 2017: Sind wir bald da? Gibt’s das auch mit Sojamilch? Eine Hommage an die Nervensägen mit Mariele Millowitsch und Devid Striesow

Foto: © Simone Jawor

Kafka nervt! – Und viele andere auch…

Eine gute, d.h. planvolle und also wirklich zündende Dramaturgie will gekonnt sein. Der gewünschte Effekt fordert sie ein. Eine elegante Inszenierung, vermag mitunter den überzeugendsten Chaoten zu erweichen (auch wenn dieser das wohl kaum zugeben würde!) Bei einem großformatigen Literaturabend mit gespanntem Publikum und professionellen Vorlesern ist sie zwingend.
Stellen Sie sich nun einmal vor, dass Sie einen solchen Abend planen müssten. Machen Sie normalerweise nicht? Macht nichts! Denken Sie nur, die Dramaturgie des Abends läge in Ihren Händen und sie suchten einen geeigneten Einstieg (Neudeutsch: Mega-Opener), der das Publikum direkt von seinen Smartphones trennt und es in warmes Wiedererkennen hüllt. Ich vergaß zu erwähnen: das Motto des Abends lautet „Nervensägen“.
Wie zündet man also ein Feuerwerk der fröhlichen Nervtöterei, bei dem das Publikum nicht genervt das Weite sucht, sondern entzückt näher rückt? Man ist versucht auszurufen: Es kann nur einen geben! Den Reigen der unterhaltsamen literarischen Quälgeister im Programm der diesjährigen LitCologne eröffnete am 12.3.17 in den Räumlichkeiten der Rheinenergie-Verwaltung niemand geringeres als: Loriot!
Nicht persönlich, versteht sich! Er wird vorgetragen. Nicht von irgendwem, versteht sich! Mariele Millowitsch und Devid Striesow geben sich die Ehre. So treten die beiden auf die Bühne und lassen ihren Loriot auf das Publikum los. Millowitsch als nervig-zickige Ehefrau („Hermann!“), Striesow gedrückt, verhuscht, genervt („Ich will einfach hier sitzen!“).
Es handelt sich hier jedoch keineswegs um den frühen Höhepunkt des Abends, sondern um einen von zahlreichen Genussmomenten.
Wussten Sie, dass Kafka nervt? Nicht als Pflichtlektüre in der Schule, sondern menschlich. Als liebestoller Dauerschreiber von zahlreichen täglichen Briefen an seine Angebetete, die sich – verständlicherweise – nicht auf jeden dieser Briefe antwortet. Literaten, so scheint es, sind mit Vorsicht zu genießen. Die von ihnen geschaffenen Figuren aber auch. So etwa die überspannte Moderatorin Jasmin, die ihre Mitläuferfreundin Johanne in der Erzählung „ Rave“ von Rainald Goetz mit ihren verworrenen Liebesgeschichten zutextet, oder der Ich-Erzähler in Wolfgang Herrndorfs „ In Plüschgewittern“ , der sich während der Schulzeit rettungslos nach Anja Gabler verzehrt.
Eine ganz andere Form des Geplagt-Seins als den Verlust des Verstandes durch Liebe findet man in David Sedaris „ Die Mackenplage“ aus dem Kurzgeschichtenband „Nackt“ . Hier geht es nämlich um einen Schüler, der mit seiner Zwangsstörung nicht nur die Familie, sondern auch die Nachbarschaft und besonders die Lehrerin Mrs. Chestnut an den Rand der Verzweiflung und auch darüber hinaus treibt. („Soll ich vielleicht zu dir nach Hause kommen und alle Lichtschalter ablecken?“) Der Leidverursacher ist hier von allen andren der Leittragende, der mit dem eigenen Bewusstsein auf Kriegsfuß steht.
Einen Klaren Schlagabtausch liefert hingegen Slawomir Mrozek in „ Der Nachtexpress“ . Im selbigen sind einander fremde Menschen darauf angewiesen, sich eine möglicherweise qualvolle Nachtlang im Schlafwagen miteinander zu arrangieren. Schlimm, wenn einer von beiden eine paranoide Nervensäge ist. Wunderbar aber, wenn die Situation gekonnt vorgetragen wird.Dem ewig leidigen Thema der lieben Nachbarn widmet sich Ephraim Kishon in „ Seligs atmosphärische Störungen“ , wo ein zu laut gehörtes Radio zum Stein des Anstoßes wird. Wo es hier noch um Menschliches geht, kommt man mit dem Text „ 39.90“ von Frédéric Beigbeder in Gefilde, die gewissermaßen von Menschlichkeit befreit sind. Fast maschinenartig, zynisch und im engen Wortsinn menschenverachtend resümiert der Ich-Erzähler die eigene Allmacht und reduziert alle anderen Menschen zu willfährigen, manipulierbaren Konsumenten, die völlig seinen Strategien unterworfen sind.

Mehr von Franz Kafka :
> Das Urteil und andere Erzählungen
> Saul Friedländer: Franz Kafka

Zurück im Bereich der neurotischen Zwangskandidaten darf natürlich einer nicht fehlen: Thomas Bernhard. In „ Alte Meister“ lässt sich der Ich-Erzähler über einen Engländer auf seiner (!) Bordone-Saal-Sitzbank aus. Was der weißbärtige Mann von Tintoretto wohl dazu sagen würde?
Zwischen all den literarischen Nervensägen tauchen auch immer wieder reale auf. So wird auch aus Werner Herzogs Aufzeichnungen über Klaus Kinski gelesen. Unnötig zu erwähnen, dass es sich hier um einen thematischen Volltreffer handelt. Allerdings bleibt zu fragen, ob man eine Gestalt wie Kinski nicht ohnehin besser in Vergessenheit geraten lassen sollte. Zum Abschluss des Abends wird noch aus Sven Regeners Herr Lehmann“ gelesen, wo die Titelfigur sich dazu hinreißen lässt dem ledertragenden Besitzer einer Schwulenbar unerbittlich in den Finger zu beißen und von seinen Begleitern zu Flucht gedrängt zu werden. Denn: egal wer wie sehr nervt, man kann sie doch meist nicht am nerven hindern. Und wenn man die Nervensägen der Welt schon nicht ignorieren, abstellen oder gar verbannen kann, dann muss man eben Literatur daraus machen, denn die verbreitet eine viel bessere Stimmung.

– Simone Jawor –
© read MaryRead 2017

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