„Das Urteil“ von Franz Kafka


Foto: © Simone Jawor / Collage: © Ute Fischer

Ästhetische Merkwürdigkeiten des Horrors

Franz Kafka hat die Merkwürdigkeiten des menschlichen Daseins in eine Literatur verfasst, verleiht ihnen eine Stimme wie kein anderer .

Menschen hungern freiwillig in aller Öffentlichkeit, lassen sich dafür in einen Käfig sperren und ihr einziges Ziel: sich selber im Hungern zu überbieten. Sie wollen von ihren Mitmenschen bewundert werden, sie brauchen das Publikum, jedoch wenden sich die Zuschauer von ihnen ab, denn Tiere sind für sie wesentlich interessanter. „Ein Hungerkünstler“ ist für die freiwillige Wahl zum Leidertragen aber auf Zuschauer angewiesen, oder ?
Ganz anders „Die Verwandlung“. Ein Mensch wird über Nacht zu einem Käfer, der in dieser neuen Rolle von seiner Familie – mal offen, mal versteckt – abgelehnt wird und nur noch in einem einzigen Raum haust .
Noch grausamer werden einzelne Menschen in der Erzählung „In der Strafkolonie“ beschrieben. Ein Reisender besucht einen Militärstützpunkt, bei dem Merkwürdiges und Grausiges geschieht. Ein Offizier ist stolz auf eine Maschine, die sein ehemaliger Vorgesetzter selber entworfen hat, die nur ein Ziel kennt: eine ästhetische Todesfolter .

Viele Interpretationen über die Erzählungen und Novellen von Franz Kafka haben die Neigung, es durch die Brille seiner Biografie und weniger literarisch zu betrachten. Weshalb gerade bei Franz Kafka diese Neigung besteht, ist nicht ganz nachvollziehbar, denn viele Literaten haben in ihrem Leben Schreckliches in ihrer Kindheit und Jugend erlebt, wie Gottfried Keller, Friedrich Hölderlin oder Christian Morgenstern . Dennoch werden bei diesen Literaten nicht in dieser Ausprägung wie bei Franz Kafka ihre Werke zu ihrem persönlichen Lebensweg in Beziehung gesetzt .

Der aus Prag stammende Schriftsteller ist ein Pianist der Literatur, ein Komponist der Worte. Er beschreibt die tiefen gefährlichen Töne wie in der Novelle „Das Urteil“, dass gleichzeitig der Titel des Buches ist. Er versteht sich auf die Beschränkung der mittleren Tasten, die die Gegenwart des Berufsbildes „Ein Landarzt“ in der Wahrnehmung der Bevölkerung dem Leser vor Augen führt, oder die hohen Töne der Zukunft bis ein Mensch die Juristerei verstehen lernt wie in „Vor dem Gesetz“ ein „Mann vom Lande“ 1 es versucht.
In der Strafkolonie“ würde man heutzutage eher dem Genre „ Horror“ zuordnen, „Ein Bericht für eine Akademie“ ist humorvoll mit einem satirischen U nterton .

Am 3. Juli 1883 wird Franz Kafka geboren und er stirbt am 3. Juni 1924 .
Seine Zeit ist geprägt vom „Streben nach Weltgeltung“ 2 verschiedener Nationalitäten wie beispielsweise Deutschland. Die weitere Prägung ist die vorangegangene europäische Bündnispolitik aus der Zeit Otto von Bismarck, das Frankreich isolieren sollte, Deutschland hingegen sollte in diplomatischen Beziehungen zu anderen europäischen Staaten eingebunden sein. Die Bündnispolitik sollte einen militärischen Frieden sichern, das aber mit Hinterlist und Tücke zustande kommt.
Die Geburtsstadt Franz Kafkas gehört zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Es gärt in der Doppelmonarchie, die slawischen Völker treten für ihre Unabhängigkeit ein, dass ihnen nur teilweise gelingt. Im tschechischen Volk bekommt das Bürgertum eine bedeutendere Rolle, 1882 wird die Universität Prag gegründet . 3
Die Lebenszeit von Franz Kafka ist durchzogen von sehr autoritären Strukturen, von Willkür, von Streben nach Ausweitung der politischen Macht, von Unruhen, dass in den Ersten Weltkrieg mündet .
Freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit ist in dieser Zeit ein Fremdwort . 4 Unter diesen harten Bedingungen bleibt Künstlern nichts anderes übrig, als in ihren Werken eine annehmbare Oberfläche zu schaffen, um der Zensur zu umgehen, gleichzeitig eine Tiefenstruktur zu erstellen, aus der hervorgeht, worum es sich tatsächlich handelt .

Franz Kafka wählt teilweise als Schauplatz die Familie, wie in „Die Verwandlung“ oder „Elf Söhne“; die Normalität kippt entweder ins Unmögliche – ein Mensch kann nicht zu einem Käfer werden – oder das Unmögliche wird aus der Ich-Perspektive erzählt, wie in „Ein Bericht für eine Akademie“, worin ein Affe seinen Lebenslauf beschreibt .
Ein Teil der Erzählungen sind kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasst worden wie „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“. Beide Erzählungen befassen sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen .
Das Urteil“ des Vaters ist unangemessen: Georg wird wegen einem geringfügigen Vergehen zum Tode verurteilt. „Die Verwandlung“ von Gregor in einen Käfer hat zur Folge, dass seine Angehörigen ihn meiden, vor der Öffentlichkeit verstecken, einsperren .
In der erstgenannten Erzählung wird die Brutalität – symbolisiert durch den Vater – der Zeit um die Jahrhundertwende beschrieben, dass wegen Nichtigkeiten ein Mensch es mit seinem Leben bezahlen muss. Die zweite Erzählung macht deutlich, dass die äußere Fassade nicht beschädigt werden darf. Obwohl beide Erzählungen als Schauplatz die Familie haben, so sind sie dennoch exemplarisch für das gesellschaftliche und politische Klima .
Die Oberflächenstruktur der beiden Prosa-Stücke wird auf das Verhalten innerhalb einer Familie reduziert, die Tiefenstruktur hingegen zeigt die Aggressionen der einzelnen Charakteren, die problemlos auf den Staatsapparat übertragen werden kann .
Diese beiden Erzählungen sind zur Lebzeit des Autors veröffentlicht worden, doch eine ganze Reihe seiner Literatur sollte nie an die Öffentlichkeit gelangen. Max Brod ist es zu verdanken, dass er sich nicht an die Anweisung des Schriftstellers gehalten und nach dessen Tod die Werke veröffentlicht hat .

Die Werke sind durchzogen vom Leid, mal gibt es kein Entrinnen, mal wird das Leid überwunden, manchmal wird das Leid von den Protagonisten selbst gewählt, manchmal bekommen die Handlungsträger das Leid von anderen aufgezwungen .
Manche Erzählungen sind so beklemmend, dass man sich gar nicht vorstellen mag, dass der Kern die allgemeine Realität der Zeit widerspiegelt. Vielleicht ist es leichter ertragbar, wenn man es psychologisiert und in Bezug zur Biografie des Autors setzt, damit di e Handlungen zu einem Einzelfall werden, weil die Vorstellung eines grausamen Zeitalters unerträglich ist. Das grausige Zeitalter steht den vorherigen Epochen im Nichts nach. Der technische Fortschritt ist für den großen Teil der Bevölkerung keine Entlastung sondern Belastung. Die Frage liegt nahe, inwiefern technischer Fortschritt für Menschen ein Segen ist oder ob man dadurch neue Foltermethoden zur Verfügung hat, die weniger ersichtlich sind und als Schönheit verkauft werden .
Es ist ein Zeitalter, das häufig auf die militärisch-politische Ebene reduziert wird mit Hinblick auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das allgemeine Ertragen vom Leid – nach außen gibt man sich loyal, nach innen ist es der Horror – wird nur selten besprochen, dass jeder Versuch, dem Horror zu entrinnen, häufig zum Scheitern verurteilt ist, wird allzu oft verschwiegen. Stattdessen muss die Psychologie herhalten und Franz Kafkas Literatur wird als Einzelfall auf Seite gelegt .

– Katja Berg –
© read MaryRead

Belletristik


Franz Kafka „Das Urteil“, gelesen von Hans-Jörg Große :

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=jMI4awnPfAs


Franz Kafka: Das Urteil
Erzählungen
190 Seiten
Taschenbuch
69. Auflage: März 2011
Verlag: S. Fischer
ISBN 978-3-596-20019-1
Preis: 6,95 € (D), 7,20 € (A)


1 Franz Kafka: Das Urteil. Originalfassung. Fischer Taschenbuch Verlag – Frankfurt am Main 2011 (69), S. 105
2 Hermann Kinder, Werner Hilgemann: dtv-Atlas Weltgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Deutscher Taschenbuch Verlag – München 2000, S. 387
3 Ebenda, S. 357
4 Vgl. Bruno Gebhardt: Handbuch der Deutschen Geschichte. Union Deutsche Verlagsgesellschaft – Stuttgart, Berlin, Leipzig 1923 (6), Band 3, S. 397


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