Nachruf: Günter Grass

Es war nicht die Trommel, es war die Pauke

Über Grenzen hinweg rauschte und dröhnte es im Mediengebälk. Sämtliche Politiker aller Couleur gaben ein Statement zum Tod von Günter Grass ab. Man könnte den Eindruck haben, dass ein Staatsmann gestorben sei. Vielleicht trifft dieser Eindruck mehr zu, als man zunächst vermuten würde .

Günter Grass war einer der ersten bekannten deutschen Persönlichkeiten, der die Aussöhnung mit unseren polnischen Nachbarn gesucht hat. Sicherlich hängt dieses Bestreben mit seiner Geburtsstadt zusammen. Er wurde am 16.10.1927 in Danzig geboren. In seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ wird die Zuneigung zu dieser Stadt an der Ostsee an verschiedenen Stellen deutlich. Darin beschreibt er auch, wie er als junger Mann erst nach dem Ende des Nationalsozialismus begreift, welche Verbrechen die braune Terrorherrschaft an Sinti und Roma, Juden, Polen und vielen anderen begangen haben. Polen war das erste Land, dass die barbarische Außenpolitik Hitlers zu spüren bekam, in dem die Juden außerhalb der deutschen Grenzen auf brutalste Art und Weise verfolgt und ermordet wurden. Günter Grass trug dazu bei, dass die tiefen Wunden bei unseren östlichen Nachbarn beginnen konnten, zu heilen. März 1958 fuhr er das erste Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Warschau und von dort aus in seine Geburtsstadt Danzig, die nun Gdańsk heißt. In den Trümmern suchte er nach Spuren seiner Vergangenheit. Seine Erfahrungen und Gedanken hielt er fest in Skizzen und Bildern.


Wendepunkt in seinem Leben

Im Frühjahr 1955 wurde Günter Grass von Hans Werner Richter zur Gruppe 47 eingeladen, vorerst als Lückenbüßer. Schon nach seinem ersten Auftritt waren die Mitglieder von ihm begeistert .
Bei einem der Treffen der Gruppe 47 , wo jeder Anwesende weitere Gedichte von ihm erwartete, las Günter Grass aus seinem Manuskript „Die Blechtrommel“. Die Sensation war perfekt: Zum einen hatte niemand aus der Gruppe geahnt, dass er an einem Roman schrieb, zum anderen waren sie vom neuartigen Stil begeistert. Schnell wurde deutlich, dass der junge Autor für dieses fulminante Stück ausgezeichnet werden müsste und im Hintergrund wurden eifrig viele Telefonate geführt, um das Preisgeld zusammen zu bekommen . 1
Im Jahr 1959 erschien der Roman. Die Kritiker waren sich bei weitem nicht so einig wie die Gruppe 47. Günter Blöcker veröffentlichte in der. Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Rezension, einen Verriss, der kaum noch zu überbieten war: Unter anderem schrieb er: „Was Grass schildert und wie er es schildert, fällt nur zum Teil auf die Sache, zum anderen Teil auf den Autor selbst zurück. […] Weil es dem Autor ganz offenkundig Spaß macht, sein allezeit parates Formulierungstalent daran zu erproben – wobei er sinnigerweise mit besonderer Vorliebe bei dem Vorgang des Erbrechens und der detaillierten Beschreibung des dabei zutage Geförderten verweilt. […] So hinterläßt das überfüllte Buch am Ende den Eindruck einer wahrhaft gräßlichen Leere. In seinem konsequent antihumanen Klima gibt es nur eines, woran man sich halten kann: den Selbsthaß.“ 2
Ganz anders reagierte Hans Magnus Enzensberger vom Süddeutschen Rundfunk . Zehn Tage vor der Veröffentlichung des Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ahnte er schon, was kommen würde und sagte: „‚Zu Unrecht wird man ihn der Provokation verdächtigen. […] Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts, er hat keine andere Absicht als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen. […] Strukturell zehrt das Buch von den besten Traditionen deutscher Erzählprosa . […] an dem Rezensenten und Philologen mindestens ein Jahrzehnt lang zu würgen haben, bis es reif zur Kanonisation oder zur Aufbewahrung im Schauhaus der Literaturgeschichte ist.‛“ 3 Wie Recht er haben sollte. Heutzutage gehört der Roman zur Allgemeinbildung, doch zu Beginn der 1960er Jahre sah dies noch ganz anders aus. Der Roman war ein Paukenschlag.
Die Blechtrommel“ war nicht nur unter den Schöngeistigen in aller Munde, sondern strahlte weit darüber hinaus. Die Gruppe 47 wurde quasi über Nacht berühmt und spätestens ab diesem Zeitpunkt kam lange Zeit kein Literat an dieser Gruppe mehr vorbei; wer im Literaturbetrieb als Schriftsteller bestehen wollte, musste sich der Kritik dieser Gruppe stellen. Seit der Veröffentlichung des Romans konnte sich die deutsche Gegenwartsliteratur im öffentlichen Diskurs verankern. Und der Roman hatte eine nachhaltige Wirkung: Es beschleunigte das Ende der Nachkriegszeit und es war der Beginn der tatsächlich souveränen Bundesrepublik Deutschland in ihrem Inneren, ohne das es auf einem Blatt Papier festgeschrieben wurde. Ein Grundstein zur Aufarbeitung des Dritten Reichs war gelegt .
Kurz nach der Veröffentlichung seines Debütromans von Günter Grass, erschienen weitere Bücher von bedeutenden Autoren. Zu nennen sind: Heinrich Böll mit „Billard um halb zehn“, Martin Walser mit „Halbzeit“, Uwe Johnson mit „Mutmassungen über Jakob“, Ingeborg Bachmann mit „ Die Hinkende “. Auf einem Schlag erschienen zentrale Werke der jungen Literaturgeschichte .

Die Anzahl der Übersetzungen von „Die Blechtrommel“, der erste Teil der „Danziger Trilogie“, reicht von 24 wie Spiegel-Online am 13.04.2015 bekannt gab 4 bis über 50 Übersetzungen wie 3sat in „Kulturzeit“ am selben Tag berichtete .
Zur „Danziger Trilogie“ gehören „Katz und Maus“, dass 1961 erschien und „Hundejahre“, dass 1963 veröffentlicht wurde .


Nachwirkungen

Der erste Roman von Günter Grass löste kontroverse Debatten aus. Das Spannungsfeld um den Autor setzte sich in den folgenden Jahren fort. Sein schärfster Kritiker war Marcel Reich-Ranicki, dass sich nach Veröffentlichung des Romans „Ein weites Feld“ von 1995 ein weiteres Mal zeigte. Marcel Reich-Ranicki veröffentlichte im Der Spiegel unter dem Titel „…und es muß gesagt werden“ in Form eines öffentlichen Briefes, unter anderem schrieb er: „ Doch muß ich sagen, was ich nicht verheimlichen kann: daß ich Ihren Roman „Ein weites Feld“ ganz und gar mißraten finde.“ 5
Offenbar hatte Marcel Reich-Ranicki ein Vergnügen daran, Günter Grass (und andere Autoren) in der Öffentlichkeit zu sezieren, wie ein Schaf, dass man zur Schlachtbank geführt hat, oder mit anderen Worten: Sie konnten nicht miteinander, sie konnten nicht ohne einander .

Die Debatten um Günter Grass hörten nach dem Erhalt des Literaturnobelpreises 1999 nicht auf. Zu nennen ist dabei seine Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ von 2006/2007. Sämtliche Literaturkritiker und andere stürzten sich auf seine Offenbarung, dass er als Jugendlicher sich freiwillig für die Waffen-SS gemeldet und als Panzerschütze gedient hatte. Jeder versuchte in seiner Kritik über die Offenlegung seiner Vergangenheit seine Vorgänger zu überbieten, dass in dem Buch noch vieles, vieles andere gesagt wurde, ging in dem röhren der Literaturhirsche unter .
Sechs Jahre später regte sich die halbe Welt über sein Gedicht „ Was gesagt werden muss “ auf, ohne den Bezug zu Marcel Reich-Ranickis Artikel „und es muss gesagt werden“ herzustellen. Man unterstellte Günter Grass einen Antisemitismus, ohne sich bei diesem Vorwurf mal selbst infrage zu stellen. Wenn in diesem Gedicht nicht Israel im Fokus stehen würde, sondern ein anderes Staatsgebilde, wäre dann die Reaktion dieselbe gewesen? Stellt sich nicht vielmehr die Frage, ob nicht durch Unterstellungen wie Antisemitismus der Staat Israel stigmatisiert wird, während man bei anderen Staaten solche Offenlegungen begrüßen würde? Kann Israel ein gleichberechtigter Partner in der Weltpolitik sein, wenn es den Sonderstatus eines traumatisierten Volkes nicht aufgeben möchte oder kann?

Als streitbarer Schriftsteller, der sich gerne in politische Debatten einmischte, hat er sich am 13. April 2015 von der Welt verabschiedet. Günter Grass ist einer der letzten innerhalb der Literatur aus der Generation „Nachkriegszeit“, abgesehen von Martin Walser und Elfriede Jelinek , der seinen Hut genommen hat. Im vergangenen Jahr starb Siegfried Lenz , ein Zeitgenosse und Kollege ganz anderer Art, und der ebenfalls streitbare Schriftsteller, Ralph Giordano .

Es wird höchste Zeit, dass eine neue Generation von Autoren am Horizont sichtbar werden, die dem angepassten literarischem Establishment verlassen und bereit sind, neue Wege zu gehen, die bereit sind, den Finger in die Wunden unserer heutigen Zeit zu legen und die bereit sind, streitbar zu sein .

Als Quasi-Staatsmann und gemäß seinem letzten Wunsch laut „Beim Häuten der Zwiebel“ erhält Günter Grass das letzte Wort :

Wegzehrung

Mit einem Sack Nüsse
Will ich begraben sein…

Das gesamte Gedicht können Sie hier nachlesen ( ): http://grass-haus.de/de/1365/guenter-grass-gestorben.html

– Karin Baum –
© read MaryRead

Ein Gespräch im Himmel
mit Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass und Siegfried Lenz

Seefriedhof


ARD: Günter Grass gestorben – Der Literatur-Nobelpreisträger aus Danzig wurde 87 Jahre alt:

Quelle ( ): https://www.youtube.com/watch?v=_7odg8vVe_E


Den offenen Brief von Marcel Reich-Ranicki an Günter Grass im Der Spiegel kann man hierunter nachlesen ( ): http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9208344.html

Die gesamte Rezension von Günter Blöcker zu „Die Blechtrommel“ vom 28.11.1959, erschienen in der FAZ kann man hier nachlesen ( ): http://www.gbv.de/dms/faz-rez/591128_FAZ_0073_BuZ5_0001.pdf

Das Gedicht von Günter Grass ( ): Was gesagt werden muss

1 Vgl. Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, Deutsche Verlags-Anstalt 2012, S. 230
2 Günter Blöcker: Rückkehr zur Nabelschnur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.11.1959, auch auszugsweise in: Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, Deutsche Verlags-Anstalt 2012, S. 233
3 Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, Deutsche Verlags-Anstalt 2012, S. 233 f.
4 Vgl. Literaturnobelpreisträger: Günter Grass ist tot , Der Spiegel – 13.04.2015, abgerufen am 28.03.2016
5 Marcel Reich-Ranicki: … und es muß gesagt werden , Der Spiegel – 21.08.1995, abgerufen am 28.03.2016


Ähnliche Beiträge:

Nachruf
Siegfried Lenz
Typisch Lenz
Als leiser Schriftsteller trat Siegfried Lenz aus dem Leben, dennoch ist die Nachricht über seinen Tod eine Erschütterung, dass selbst die gestrige Verleihung des Deutschen Buchpreises an Lutz Seiler in den Hintergrund … mehr >
von Corinna Klein / 07.10.2014 / Bordbuch


Rezension
Lenz, Siegfried: Die Flut ist pünktlich
Fundgrube
Jede Erzählung hat eine Leitfrage, sei es eine Frage, die sich in einer Partnerschaft stellt, sei es eine Frage aus dem wirtschaftlichen Bereich oder eine Grundsatzfrage, wie beispielsweise, wann wird ein herbeigeführter … mehr >
von Silke Lange / 16.02.2014 / Erzählungen


Rezension
Capus, Alex: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer
Literarischer Diamant
So unterschiedlich die drei Hauptpersonen in ihren Charakteren sind, so verbindet sie, dass sie das Beste, was sie in ihrer jeweiligen Situation tun können, für sich herausholen. Es sind drei völlig verschiedene Lebenswelten …
mehr >

von Astrid Meyer / 06.11.2013 /
Roman


Rezension
Ahmad, Jamil: Der Weg des Falken
Allein im Grenzgebiet
Der Falke ist ein elternloser Junge, der durch die Lande streift und von einem Mann aufgenommen wird. Der Leser erfährt, auf welche brutale Weise dieser Junge seine Eltern verloren hat. Zunächst fühlt man sich in seinem … mehr >
von Marion Hahn / 15.10.2013 / Roman

Dieser Beitrag wurde unter Nachruf abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink .

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *