Brief an Jean-Paul Sartre

Sisyphus oder das Spiel ist aus

Morgaine, den 21.06.2015

Sehr geehrter Monsieur Sartre ,

schon lange habe ich nicht mehr an Sie gedacht. Keine Ahnung, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist .
Wie wir Menschen halt so sind, brauchen wir Anlässe, um an jemanden zu Denken, um den Mut aufzubringen, sich bei demjenigen mal zu melden. Ich nehme Ihren besonderen Tag zum Anlass und schreibe Ihnen diesen Brief .

Ist es nicht so, wenn man einem Menschen in einer wichtigen Lebensphase begegnet, dass die erste Begegnung von besonderer Bedeutung ist, dass diese einem am ehesten in Erinnerung bleiben ?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich erinnere mich noch sehr genau an unsere erste Begegnung. Für eine Begegnung mit Ihnen war es ein ungewöhnlicher Ort, die Wahrscheinlichkeit wäre viel höher gewesen, Ihnen in Frankreich, in Paris zu begegnen, aber ich traf Sie in der Schule. Ich war gerade in meine erste eigene Wohnung gezogen, kam mir sehr erwachsen vor und vor allem genoss ich die unglaubliche Freiheit . Damals wusste ich noch nicht, dass Freiheit in dem Widerspruch der Einschränkung, der Grenzsetzung zu tun hat. Ich sah nur die Möglichkeit, dass ich über alles frei entscheiden konnte und nutzte es in vollen Zügen. Heute weiß ich, dass Freiheit nur dann möglich ist, wenn man sich begrenzt, wenn man Strukturen hat, wenn man so will, sich selber einengt. Ich behaupte nicht, desto enger die Grenzen, desto mehr Freiheit. Oh nein! Ganz und gar nicht! Aber von jedem ein bisschen.
Als wir uns damals begegneten, wollte ich vom Leben kosten, jeden Atemzug meines Daseins sollte dem Leben gewidmet sein. Meinen geistigen Horizont wollte ich erweitern und da kamen Sie mir gerade Recht. Mit Ihren Gedanken sah ich einen Weg auszubrechen aus dem kleinstädtischen Mief, aus der üblichen Vorstellungswelt meiner näheren Mitmenschen .
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, als ich Sie in unserer Schule traf. Ich junges Ding, die glaubte, vieles von der Welt schon zu kennen und Sie als gestandener Herr, berühmt durch Ihre Schriften, so einige politische Auseinandersetzungen schon hinter sich hatte, die mir noch alle bevorstanden, der seinen Lebensweg kannte. Fast ehrfürchtig kam ich Ihnen entgegen aber Sie nahmen mich nicht wahr. Im Grunde konnte ich durch Sie hindurchgehen, ohne dass Sie von mir Notiz nahmen .
Ich saß als Oberstufenschülerin im Klassenzimmer, wir hatten Philosophie , die Sonne schien mir warm auf den Rücken, da begann der Lehrer eine Zeichnung an die Tafel zu malen. Zunächst einen Hügel. Am Hang des Hügels zeichnete er auch noch so etwas wie eine Kugel, einen runden Stein und ich saß auf meinem Platz, völlig ratlos, was diese Zeichnung bedeuten sollte. Ich war wohl nicht die einzige mit ratlosem Gesichtsausdruck, denn der Lehrer begann nun seine Erläuterung.
Er fragte uns: „Kennt ihr Sisyphus ?“
Von unserer Seite folgte ein Schweigen .
Freut ihr euch schon auf euer Abitur?“
Was für eine Frage, wenn wir etwas erreichen wollten, dann war es das Abitur, dass einem Freiheit versprach, Freiheit von der Schule – die ich gar nicht als Übel empfand – Freiheit in der Berufsentscheidung was natürlich mit einem Studium eingeleitet werden sollte .
Der Lehrer sagte: „Sobald ihr das Abitur habt, beginnt ihr et was Neues, ihr müsst den Stein wieder nach oben wälzen. Wenn ihr dann euer Studium abgeschlossen habt, beginnt ihr wieder et was Neues und wieder müsst ihr den Stein nach oben wälzen, der in der Zwischenzeit immer und immer wieder nach unten kullert .“
Das leuchtete mir ein, empfand ich aber nicht als tragisch. Er sagte noch et was: „Sisyphus wälzt immer wieder aufs Neue den Stein nach oben. Sobald der Stein oben angekommen ist, rollt der Stein wieder herunter und die Arbeit für Sisyphus beginnt von vorne. Im Klartext: Seine Arbeit ist völlig sinnlos .“
Was der Lehrer uns aber nicht mitteilte, dass Sisyphus von Zeus bestraft worden war .
Zeus hatte die Nymphe Aigina, Tochter des Flussgottes Asopos entführt .
Sisyphus, der Gründer und König von Korinth, sah die Trauer des Vaters, nahm all seinen Mut zusammen und verriet ihm, wo sich seine Tochter aufhält .
Wie alle Götter so forderte auch Zeus von seinen untergebenen Göttern und von den Menschen blinden Gehorsam und duldete keinen „Verrat“, dass Zeus als göttlicher Diktator rücksichtslos und egoistisch war, jeglicher antiken griechischen Ethik widersprach, spielte keine Rolle. Der höchste Gott gab sich selbst die Erlaubnis für sein Handeln .
Als Zeus vom Verrat erfuhr, schickte er Thanatos, den Gott des Todes. Sisyphus aber wusste sich zu wehren und fesselte Thanatos so gut, dass seine Macht vorerst gebrochen war. Nachfolgende Religionen haben daraus gelernt. Die Macht des Todes ist beispielsweise im Christentum gebrochen, die aber erst nach dem Ableben des Menschen wirksam werden soll .
Die Folge der Gefangennahme von Thanatos war, dass alle Menschen unsterblich waren, doch das verwirrte sie so sehr, dass Zeus a ufmerksam wurde. Er sah, was mit Thanatos geschehen war, wurde zornig, schickte den Kriegsgott Ares, der Thanatos befreite. Daraufhin wurde Sisyphus in den Hades gebracht, den Ort der Toten. Doch Sisyphus hatte schon vorher die Gefahr geahnt und hatte dementsprechend vorgesorgt. Seine Ehefrau wies er an, dass im Falle seines Todes sie keine Opfer bringen sollte. An diese Anweisung hielt sich seine Ehefrau. Das fand Thanatos gar nicht gut, denn die Seele von Sisyphus kam nicht zur Ruhe und wer will schon Unruhestifter in den eigenen Reihen haben. Thanatos schickte Sisyphus zu seiner Frau mit der Auflage, sobald er ihr die Anweisung der rituellen Todesopfer gegeben hat, müsse er unverzüglich in den Hades zurückkehren. Wahrscheinlich schmunzelte Sisyphus in sich hinein und dachte sich: „Ich werde auf keinen Fall freiwillig in das Reich der Toten zurückkehren.“ Dieses Mal machte er aber die Rechnung ohne den Wirt, denn Zeus war nun sehr zornig. Er veranlasste, dass Sisyphus gefangen genommen, in den Hades geschleppt wurde und seitdem muss er zur Strafe bis in die Ewigkeit einen schweren Stein den Hügel hinaufwälzen, der dann wieder herunterrollt . 1

Ein wagemutiger Mitschüler fragte den Lehrer: „Wollen sie uns damit sagen, dass unser Abitur sinnlos ist?“
Die Antwort des Lehrers: „Im Sinne von Sisyphus beziehungsweise im Sinne der Existentialisten ist das so .“
Zwischenfrage einer Schülerin: „Was ist denn das schon wieder, dieses Wort, was sie gerade nannten, Existentialisten ?“
Existentialismus ist eine philosophische Strömung, die es hauptsächlich in Frankreich gegeben hat. Der Existentialismus geht davon aus, dass der Mensch etwas in der Gegenwart ist, ein Sein hat, gleichzeitig seine Zukunft entwirft. „Durch diesen Entwurf ist er immer schon über sich hinaus, er ist, was er noch nicht ist .“ 2 Von daher ist das Wesen des Menschen die Freiheit, denn nur mithilfe der Freiheit kann er sich selbst verwirklichen. Jegliche Begrenzung der Freiheit, sei es durch die Mitmenschen, sei es durch die nicht vorhandenen eigenen Fähigkeiten, hebt nicht das eigentliche Wesen der Freiheit auf. Im Gegenteil: Erst die Begrenzung macht die Freiheit deutlich, die Freiheit wird dadurch erst sichtbar. Somit ist es dem Menschen möglich, die Sinnlosigkeit seines Daseins zu erkennen .“ 3
Wenn ich mich richtig erinnere, fiel in diesem Zusammenhang der Name Albert Camus, den Sie zu Beginn seiner Karriere schätzten. Sie waren von seinem Roman „Der Fremde“ begeistert. Der Inhalt des Buches kam Ihrer Denkweise, Schuldgefühle abzuwerfen und auf dem Recht der Freiheit zu bestehen, sehr nahe .
Anscheinend hat mich Sisyphus und der Existentialismus beeindruckt, hinterließen in meiner Gedankenwelt Spuren. Kurz darauf schlenderte ich durch eine Buchhandlung und fand Ihr Drehbuch „Das Spiel ist aus“. Natürlich habe ich dieses Buch gekauft, selbstverständlich fing ich noch am gleichen Tag in diesem Buch an zu lesen .
Es war ein herrlicher Sommer, in den Abendstunden konnte man noch lange draußen sitzen, Wein trinken und ich las Ihr Buch, dass in Frankreich 1947 unter dem Titel »Les jeux sont faits« erschien und in Deutschland 1952 veröffentlicht wurde .
In meinem jugendlichen Eifer, in meiner jugendlichen Begeisterungsfähigkeit, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schon die Vorstellung darüber, dass zwei Menschen, die sich zu Lebzeiten verpasst haben, die Chance bekommen, zu den Lebenden zurückkehren zu dürfen und ihre Liebe leben zu können, empfand ich als Erlösung, als wunderschön und kam meinen romantischen Vorstellungen vom Leben nach dem Tod sehr nahe. In meiner Naivität bin ich davon ausgegangen, dass es für die beiden – Éve Charlier und Pierre Dumaine – ein Kinderspiel ist, die Auflage zu erfüllen, sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden vertrauensvoll zu lieben. Wenn ihnen das gelingen würde, können sie unter den Lebenden bleiben ansonsten müssen sie in das Reich der Toten zurückkehren .
Damals war ich von Ihrem Drehbuch begeistert, für mich stand die Liebe der beiden im Vordergrund, alles andere war nebensächlich. In meiner Begeisterung nahm ich den Inhalt des Buches fraglos hin, aber heute habe ich Fragen .
Wie würden Sie das Verhalten von Lucien Derjeu bewerten? Er ist achtzehn Jahre alt, wird in Ihrem Drehbuch von Pierre als „schmutziger Denunziant 4 beschimpft, der die Wahl gehabt hat zwischen Verrat der Verschwörergruppe und der Aussicht, weiter leben zu dürfen oder dem Schweigen, das sein Todesurteil gewesen wäre. Sehen Sie in ihm einen Denunzianten? Finden Sie die Reaktion von Pierre gegenüber Lucien gerechtfertigt ?
Glauben Sie, dass Menschen unterschiedlichen Milieus zu keiner tiefgreifenden Liebe füreinander fähig sind? Dass die Lebensvorstellung von Arbeitern (Pierre Dumaine) und Bourgeoisie (Éve Charlier) zu weit auseinanderklaffen ?
Wie sind Sie der Sinnlosigkeit Ihres Daseins entronnen ?
Trägt der Mensch Ihrer Ansicht nach den rächenden Gott Zeus, den Handlanger Tanathos und die Sinnlosigkeit von Sisyphus in sich ?

Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen 110. Geburtstag in der Laguénésie-Gasse. Lassen Sie es sich gut gehen ,

Claudia Bröcher

– Claudia Bröcher –
© read MaryRead

Lesestoff

Jean-Paul Sartre : Das Spiel ist aus
Originaltitel: Les jeux sont faits
Übersetzt aus dem Französischen : Alfred Dürr
Drehbuch
138 Seiten
Taschenbuch
erschien in Frankreich: 1947
erschien in Deutschland: 01.08.1952 / 07.06.2001 (inzwischen 73. Auflage)
Verlag: Rowohlt
ISBN 978-3-499-10059-8
Preis: 6,99 € (D), 7,20 € (A)


1 Richard Carstensen: Sagen der Griechen und Römer, Ensslin & Laiblin Verlag – Reutlingen 1959 (15), S. 63f.
2 Peter Kunzmann, Franz-Peter Burkard, Franz Wiedmann: dtv-Atlas Philosophie, Deutscher Taschenbuch Verlag – München 1999 (8), S. 203, Spalte 1
3 ebenda
4 Jean-Paul Sartre: Das Spiel ist aus, Rowohlt Verlag – Hamburg 1991 – Neuausgabe, S. 16


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von Andrea Müller / 11.03.2013 /
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