Charlie Hebdo: Chronik eines Redaktionsbüros am 7. Januar 2015

Anschlag auf Charlie Hebdo_Chronik eines Redaktionsbueros am 07.01.2015 Chronik eines Redaktionsbüros am 7. Januar 2015

Ich stehe wie nahezu jeden Morgen um 7.00 Uhr auf. Ganz gemütlich werfe ich die Kaffeemaschine an, mache mir die ersten Gedanken über meinen Tagesablauf. Draußen ist es dunkel, nass und kalt, Stille in den Straßen. Es erwartet mich ein ganz normaler Redaktionstag am Mittwoch. Nichts Außergewöhnliches.

Ich habe Pause, freue mich auf einen Plausch mit meiner Kollegin. Im Pausenraum schalten wir das Radio ein. TERRORANSCHLAG IN PARIS. Wir beide schauen uns an, sind fassungslos, begreifen aber noch nicht viel. Dann: ANSCHLAG AUF SATIREMAGAZIN CHARLIE HEBDO . Wir sind geschockt, wir haben keine Ahnung, wie wir reagieren sollen. Wir rennen zu unseren Kolleginnen, brüllen: „Schaltet das Radio ein!“

11.30 Uhr Paris, Rue Nicolas-Appert: „Zwei schwer bewaffnete, maskierte Männer strecken einen bereits verletzten Polizisten nieder. Mit der gleichen Kaltblütigkeit töten sie anschließend weitere elf Menschen, acht von ihnen sind Mitarbeiter der Satirezeitung “Charlie Hebdo”, darunter fünf Zeichner, der Leibwächter des Redaktionsleiters und ein Hausangestellter.“ 1 , doch die Getöteten wird man erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Namen kennen.

13.37 Uhr: Es wird bekannt gegeben, dass es zu einer Geiselnahme gekommen ist. Fünf Menschen aus einem jüdischen Geschäft sind in der Hand von Terroristen.

14.30 Uhr Paris, Rue Meaux: Das Auto der beiden Attentäter, Chérif Kouachi (32 Jahre alt) und sein Bruder Said (34 Jahre alt), wird in der Rue Meaux gefunden. Im Auto liegen die Personalausweise der Terroristen. Sie selber können entkommen.
Der Schock sitzt tief. Unsere gesamte Redaktion ist gelähmt, fassungslos, wortlos. Simone Jawor, gerade aus Riga eingetroffen, kommt in unser Redaktionsbüro. Mit Tränen in den Augen begrüßen wir Simone. Bald liegen wir alle heulend in den Armen und dann kommt die Wut, der Zorn. Das wird unsere Antriebsfeder. Schnell sind wir uns einig, dass wir uns an JE SUIS CHARLIE beteiligen und es auch auf unsere Homepage setzen. Auch wenn wir oft genug Bauchschmerzen bei den Bildern und Satire von Charlie Hebdo hatten, jetzt gilt nur noch eines: SOLIDARITÄT .
Je suis Charlie gestalten wir ein wenig um:

Terroranschalg auf Charlie Hebdo_Chronik eines Redaktionsbueros am 07.01.2015_Wir sind Charlie

Das Bild bringen wir in die sozialen Netzwerke: Facebook und google+.

14.57 Uhr Über Spiegel-Liveticker erfahren wir, dass selbst die Ermittler über die Brutalität schockiert sind. 2
Zu diesem Zeitpunkt sind sich alle Medien und Politiker sicher: Es kann sich nur um einen terroristischen Anschlag handeln. Die meisten von ihnen wissen auch schon, wer die Drahtzieher sind: „Islamistischer Staat“ (IS). Das erinnert uns sehr an den 11. September 2001, auch an dem Tag „wussten“ viele, dass al-Qaida dahinter steckt. Uns machen solche Theorien skeptisch. Es gibt so viele unterschiedliche Gruppierungen, letztendlich können es viele gewesen sein.

15.17 Uhr: Spiegel-Liveticker meldet: „Die Zeichnerin Corinne „Coco“ Rey sagte der „L’Humanité“, die Täter hätten perfektes Französisch gesprochen.“ 3
In unserem Redaktionsbüro wird vor allem eines sichtbar: Jede von uns geht mit dem Anschlag anders um und so beschließen wir, dass jede für sich entscheiden kann, ob sie nach Hause zu ihrer Familie, im Büro bleiben oder sich mit Freunden treffen möchte. Unsere Redaktionsleitung kann nicht anders und bleibt im Büro. Alle anderen bleiben ebenfalls. Simone Jawor zieht sich zurück in ihr Büro. Sie beginnt mit einem Gedicht . Unsere Redaktionsleitung versucht Kontakt herzustellen zu französischen Kollegen, aber ein Durchkommen ist für sie nicht möglich. Mails schreiben macht zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn. Die Kolle gen in Frankreich haben was ganz anderes zu tun.

16.00 Uhr Über WDR 5 erfahren wir, dass Belgien und Italien sich zu einer Krisensitzung zusammengetroffen haben. Beide Länder haben dazu Terrorismusexperten mit einberufen.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière versucht mit seinen Worten „Die Lage ist ernst, es gibt Grund zur Sorge und Vorsorge, aber nicht zur Panik.“ beruhigend auf die Bevölkerung einzuwirken. Merkwürdigerweise hatte in unserem Redaktionsbüro niemand die Sorge, dass es am selben Tag oder in den nächsten Tagen zu einem vergleichbaren Anschlag in Deutschland kommen könnte.
Für den Abend werden stille Versammlungen in vielen Städten Frankreichs aber auch in den Hauptstädten Europas wie in Berlin angekündigt. 4

Was uns allen im Büro durch und durch geht, ist die unglaubliche Solidarität. So schrecklich dieser Anschlag ist, aber der Schulterschluss zwischen Presse und Politiker und der Bevölkerung über alle Religionen und Weltanschauungen hinweg, macht uns in all der Trauer und Fassungslosigkeit auch glücklich, sofern man in solchen Stunden so etwas wie „Glück“ empfinden darf.
Überall sieht man nun das schwarz-weiß umrandete „JE SUIS CHARLIE (Ich bin Charlie / Wir sind Charlie)“.

18.00 Uhr Acht von zwölf Todesopfer sind bekannt: der Herausgeber des Magazins „Charlie Hebdo“ und drei Zeichner, ein Passant und zwei Polizisten. Wer sind die anderen vier Opfer?

Irgendetwas müssen wir tun. Unsere Gedanken und Überlegungen führten uns zu folgender Collage:

Anschalg auf Charlie Hebdo_Chronik eines Redaktionsbueros am 07.01.2015_Reaktion Collage

Die Collage zeigt eine Rakete mit Bilderbüchern , die wir am liebsten auf den schnellsten Weg allen Kindern der Welt schicken möchten und da wo keine Rakete landen kann, sollen sie es per Zug bekommen. Zu diesem Zeitpunkt sind wir der Überzeugung, Bücher und Bildung können Menschen vor Radikalisierung schützen.

23.03 Uhr Sonia Seymour Mikich kommentiert im Rahmen der Tagesthemen den Tag so: Französische Freunde von ihr sagen: „Das ist unser Nine-Eleven.“ Und am Ende ihres Kommentars sagt Frau Mikich: „Wir antworten mit dem erhabenen Anspruch der französischen Revolution : Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wir weichen vor euch irren Schlächtern nicht zurück.“ 5

– Eva Wespe –
© read MaryRead

Übersicht Pinnwand

1


1 Euronews: Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Chronik einer Menschenjagd, 09.01.2015: http://de.euronews.com/2015/01/09/anschlag-auf-charlie-hebdo-chronik-einer-menschenjagd/
2 Vgl. Der Spiegel: Wir müssen wir selbst bleiben, von Katharina Blaß, Sören Harder , Gesa Mayr und Christian Teevs, 07.01.2015: http://www.spiegel.de/politik/ausland/schiesserei-bei-charlie-hebdo-liveticker-zu-anschlag-in-paris-a-1011713.html
3 http://www.spiegel.de/politik/ausland/schiesserei-bei-charlie-hebdo-liveticker-zu-anschlag-in-paris-a-1011713.html
4 Vgl. Frankfurter Rundschau: Tausende bei Solidaritätskundgebungen, 07.01.2015: http://www.fr-online.de/terror/anschlag-auf–charlie-hebdo–tausende-bei-solidaritaetskundgebungen,29500876,29505598.html
5 Tagesthemen: Frankreichs 9/11: Kommentar von Sonia Seymour Mikich, 07.01.2015 : http://www.tagesschau.de/ausland/charliehebdo-101.html

Dieser Beitrag wurde unter Aus--und Nachwirkungen abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink .

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *