Bewunderung von Naturschönheit

Kaisermantel

Inmitten der Stadt gibt es ein kleines schmales Terrain fast unberührter Natur. Darin fließt ein Bach, gesäumt von dem süßen Duft des Madesüß, Brennnesseln, einigen Sträuchern und Bäumen. Zum Glück laufen die meisten Menschen an diesem kleinen Flecken Erde vorbei und so kann ich dort ungestört sitzen, meinen Gedanken nachhängen, zeichnen, lesen und schreiben oder einfach gar nichts tun. Rechts von mir verläuft die Straße, daran grenzt ein größerer Supermarkt, eine Tankstelle, Baumarkt, Fitnesscenter und noch so manch anderes Geschäft an. Der Lärm der Straße und das Rattern des Windkanals von der Tankstelle erreicht mich, das Vogelgezwitscher wird übertönt. Nichts desto trotz ist es mein Rückzugsort. Hier entdeckte ich vor Kurzem die Blaue Prachtlibelle, eine Art, die vom Aussterben bedroht ist, auf der Roten Liste steht.
Plötzlich sehe ich genau vor mir, es trennt mich nur der Bach und das Gestrüpp, einen orange-braunen Schmetterling, wunderschön anzusehen und trägt auch noch die Bezeichnung „Kaisermantel“, wenn ich nicht immer wieder durch die nervige Mücke gestört werden würde, die mich offensichtlich ansaugen will, in mir sieht sie wohl ein Reservoir an leckerem Blut. Sobald ich die Mücke vorerst abgewehrt habe, richtet sich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Schmetterling. In der Zwischenzeit macht sich eine kleine beigenfarbene Raupe auf meinen Schreibutensilien breit; die drei kleinen Schnecken links und rechts von mir, die gut versteckt sind unter Grashalmen, die sich in unterschiedlichen Wachstumsstadien befinden, nehme ich nicht wahr. Ich trinke einen Schluck Kaffee. Der Schmetterling ist ungewöhnlich ruhig, bleibt lange und ausdauernd auf einer Blüte sitzen, saugt ihren Nektar bis sie nichts mehr hat, während seine Artgenossen sich auf ständiger Nahrungssuche befinden.
Mücken sind eine Plage. Oh man, jetzt ist auch noch der schöne Schmetterling verschwunden, stimmt nicht, der hat nur eine weitere Blüte aufgesucht. Lautlos bewegen sich die dunklen Falter, die vorbeihuschende kleine Erdkröte, die sich blitzschnell unter dem hohen Gras versteckt, sehe ich nicht. Meine ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf den wunderschönen Schmetterling der sich mit der Blüte im Wind bewegt.
Für diese Idylle, für den Rückzug in die Natur, werde ich von etlichen beneidet, die Rivalitäten und Kämpfe der Insekten, gerade hat eine Wespe ein deutlich kleineres Insekt zerbissen, sind für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, Schwalben schrauben sich lautlos immer höher in den Himmel, immer näher zu der Wolke, die aussieht wie eine Feder oder wie eine Wirbelsäule mit Bandscheiben, nur das Rückgrat ist gebrochen, dass aber ihrer Anmut nichts anhaben kann. Der Kaisermantel sitzt auf einer weiteren Blüte, auch diese wird er ein weiteres Mal bis auf den letzten Tropfen aussaugen.

Andreas Wagemut
© read MaryRead 2017

► Korsaren-Anthologie

Home > Korsaren-Anthologie > Lesestoff > Lese-Koje > Bewunderung von Naturschönheit


Ähnliche Beiträge:

Rezension :
Stoop, Chris de:
Das ist mein Hof . Geschichte einer Rückkehr

Rezension :
Haskell, David G.:

Das verborgene Leben des Waldes
.
Ein Jahr Naturbeobachtung

Fabel :
Die Schnecke und die Barmherzigkeit