Das literarische Quartett, Juni 2016

Alles wie gehabt und doch war alles anders

Am Abend des Brexits gab es in der Sendung Das literarische Quartett wohltuende Überraschungen. Die erste Überraschung sei vorweggenommen, es wurde nicht über Großbritannien und EU gesprochen, noch nicht einmal angedeutet. Klar, die Sendung wurde Tage vorher aufgezeichnet und so wurde lediglich zu Beginn von Volker Weidermann die Fußball-EM erwähnt. Offensichtlich hatte man die Sendung längst vor Beginn des Großereignis Fußball gedreht, da noch nicht einmal ein Glückwunsch oder eine Anmerkung zum Weiterkommen der Deutschen fiel. All das Fehlen konnte einen Enttäuschen und einen dazu veranlassen, sich bei einem anderen Sender umzuschauen, sich einem Buch widmen oder was einem sonst so an einem Freitag Abend einfällt, doch Pech für diejenigen, die diesem Drang nachgegangen sind. Sie haben etwas verpasst .

Die Erwartungen waren groß, als Das literarische Quartett seit dem 2. Oktober 2015 neu aufgelegt wurde und viele waren enttäuscht. In den Feuilletons und anderswo wurde die Neuauflage scharf kritisiert, stellenweise zurecht, und man konnte annehmen, die Rollenverteilung sei schon festgezurrt. Doch an diesem Abend konnte man beobachten, wie sich eine Gruppenkonstellation verändert, nicht grundlegend aber punktuell. Aber nicht nur das, auch der Zuschauer wurde in gewisser Weise Teil dieser Sendung und zwar nicht, weil es irgendjemand geplant hatte, sondern allein durch die vier Protagonisten des Abends: neben Volker Weidermann waren es der Schriftsteller Maxim Biller und die Literaturkritikerin Christine Westermann, und als Gast Thea Dorn. Man kann liebevoll sagen, die kleinen spitzen Dornen hatten es in sich und machten die 60 Minuten spannend .
Bisher gab es ein Prinzip: Wenn Christine Westermann etwas sagte, widersprach Maxim Biller und umgekehrt, nicht immer, aber fast immer, verhielten sie sich wie Hyänen, verbal fielen sie übereinander her. Entweder hatten die beiden einen guten Tag, oder sie haben sich ausgesprochen, oder sie haben etwas dazu gelernt, den Spekulationen ist viel Raum und Möglichkeiten gegeben. Wie auch immer, bei Maxim Biller konnte man an diesem Abend den Eindruck gewinnen, dass er sehr gezähmt, vielleicht ihm sogar die Flügel gestutzt wurden. Was ihn auch immer dazu bewegt hat, klug und mit Witz zu antworten, es war herrlich .
Thea Dorn ist zum einen als Literaturkritikerin unter anderem aus der Sendung Literatur im Foyer bekannt, auch dafür, dass sie hohe Ansprüche an die Literatur stellt, zum anderen durch ihre Kriminalromane .
Maxim Biller hielt sich mit seinen Untertönen zurück, dafür brachte er seine Ansichten auf den Punkt. Christine Westermann schielte mehrmals zu ihm und wollte auf jeden Fall verhindern, ihn schon wieder, wie in der letzten Sendung, unrechtmäßig und heftig anzugreifen. Bei der ersten Buchvorstellung Unterleuten von Juli Zeh trat Thea Dorn als Diplomatin auf, sie unterstützte Maxim Biller aber auch Christine Westermann. Doch diese Rolle hielt sie nicht den ganzen Abend bei und spätestens als Maxim Biller seinen mitgebrachten Essay Princeton 66 von Jörg Magenau vorstellte, kamen von Thea Dorn nur zwei Worte, die bei den anderen Beteiligten sowie bei dem Zuschauer ein Schmunzeln hervorriefen. Mit diesen zwei Worten wurde vor allem eines deutlich: Thea Dorn ist eine aufmerksame, vielleicht auch sensible Leserin. Maxim Biller sprach begeistert von dem Sachbuch und von dem Schriftsteller, wie schön und mit welcher Distanz er über drei Tage über die Gruppe 47 geschrieben hat, worüber die Teilnehmer der Gruppe geschwiegen haben und sich in diesem Punkt genauso verhielten, wie der große Rest der Gesellschaft, das Dritte Reich mit der Judenverfolgung und anderer wurde ausgeklammert, geschwiegen und verschwiegen, wie die Männer sich stellenweise als Chauvinisten aufführten, Christine Westermann stimmte dem zu, da widersprach Thea Dorn und sagte: „Und doch.“ Und doch ist der Autor des Buches nicht wesentlich anders. Sie belegte es an dem Beispiel, als Gabriele Wohmann nach der Männerriege ihren Text der Gruppe vortrug und der Autor, sie als schöne Frau beschreibt, was im Zusammenhang von Literatur nichts aber auch gar nichts zu suchen hat. Und recht hat Thea Dorn, was soll diese Anmerkung, Frauen werden immer wieder zunächst auf ihr Äußeres reduziert, es wird nach ihrer Kleidung geschaut, wie ihre Figur ist und vielleicht kommt man dann zu dem Punkt, was sie zu sagen hat. Thea Dorn sagte das nicht zornig, nicht wütend, sondern lapidar entschieden. Kurze Stille, dann eine anregende Diskussion .

Der Zuschauer konnte, sofern er wollte, Teil dieser Sendung werden. Natürlich konnte kein Zuschauer direkt eingreifen, aber auch der Zuschauer hat Erwartungen an eine Sendung, hat Vorstellungen darüber, wie sie verlaufen könnte oder wird .
Das literarische Quartett hat sich inzwischen von Sendung zu Sendung warm gelaufen und man konnte mit gewissen Vorstellungen sich die Sendung anschauen, nur dieses Mal passten diese nicht so ganz. Woran es genau gelegen hat, entzieht sich der öffentlichen Kenntnis, aber Maxim Biller scheint viel Wert auf die Meinung von Thea Dorn zu legen, achtete sehr auf seine Umgangsart, dass positive Auswirkungen auch auf die anderen hatte .
Auch bei dem Zuschauer konnte sich etwas verändern, der Alltag, der schwarze Freitag war vergessen, man wollte wissen, was Maxim Biller und Thea Dorn über die Bücher denken und auch die Anmerkungen von Christine Westermann waren hilfreich, da sie, wie sie mehrmals betonte, nicht so tief im Literaturbetrieb steckt und die Bücher mehr aus der Sicht des Lesers bewertet .

Zum ersten Mal ist es ihnen gelungen, den Zuschauer auf alle vier Bücher neugierig zu machen, Juli Zeh mit ihrem neuen Roman Unterleuten , obgleich Maxim Biller gar nicht begeistert ist und Thea Dorn nur bedingt , Das Zimmer von dem schwedischen Schriftsteller Jonas Karlsson ist zwar nur als naja eingestuft worden, scheint aber dennoch interessant zu sein und man kann es quasi nebenbei lesen, schon allein deshalb, weil es nicht sehr viele Seiten hat; die nach elf Jahren nach ihrem Tod entdeckte amerikanische Schriftstellerin Lucia Berlin mit dem Erzählband Was ich sonst noch verpasst habe ist – von allen vier bestätigt – eine Sensation und die Gruppe 47, vorgestellt von Jörg Magenau im Essayband Princeton 66 sollte man wohl auch gelesen haben .

Hannah Tiger
© read MaryRead

Hafenbericht

Juli Zeh : Unterleuten
Roman
640 Seiten
gebunden
erschien: 04.03.2016
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
ISBN 978-3-630-87487-6
Preis: 24,99 € (D), 25,70 € (A)

Jonas Karlsson : Das Zimmer
Originaltitel: Rummet
Übersetzung aus dem Schwedischen: Paul Berf
Roman
176 Seiten
gebunden
erschien: 06.04.2016
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
ISBN 978-3-630-87460-9
Preis: 17,99 € (D), 18,50 € (A)

Lucia Berlin : Was ich sonst noch verpasst habe
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Antje Rávic Strubel
Stories
384 Seiten
gebunden
erschien: 19.02.2016
Verlag: Arche
ISBN 978-3-7160-2742-4
Preis: 22,99 € (D), 23,70 € (A)

Jörg Magenau : Princeton 66
Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47
Essay
223 Seiten, mit Abbildungen
gebunden
erschien: 18.02.2016
Verlag: Klett Cotta
ISBN 978-3-608-94902-5
Preis: 19,95 € (D), 20,50 € (A)


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