„Das verborgene Leben des Waldes“ von David G. Haskell

Unscheinbare Schönheit

Erkenntnisse aus einem kleinen Waldstückgebiet zu bekommen, indem es ein Jahr lang beobachtet wird (laut Untertitel), hat mich fasziniert aber auch skeptisch gemacht. Die Skepsis löste sich noch während des ersten Kapitels des Sachbuches „Das verborgene Leben des Waldes“ von dem amerikanischen Biologen David George Haskell im Nichts auf, im Gegenteil, ich konnte nicht genug bekommen.

David Haskell macht sich in unregelmäßigen Abständen, bei jeder Temperatur, bei Wind und Wetter, auf den Weg zu einem kleinen Waldstück, in der Nähe des „Perimeter Trail“, das Teil der Fläche von „University of the South“ in Sewanee (Tennesse) ist. Er bezeichnet die kleine Fläche von einem Quadratmeter als Mandala. Der Begriff ist dem buddhistischen entlehnt und ist eine spezielle Meditationsform, beispielsweise wird mancherorts im asiatischen Raum sieben tagelang mit bunten sehr feinen Sandkörnern riesige Bilder erschaffen. Es sind große, sehr große Bilder, die am siebten Tag weggeweht werden. Uns Europäern tut es in der Seele weh, aber es ist Teil der Meditation. Alle Bilder sind kreisförmig, so auch der Ort, den der Biologe aufsucht. Er zerstört dabei nichts, er berührt nichts, er verändert nichts, noch nicht einmal dann, als eines Tages ein Golfball dort liegt. Als er den Golfball sichtet, überlegt er zwar, ob er das Teil aus Plastik entfernen soll, entscheidet sich am Ende seiner Überlegungen, dass er seinem anfänglichen Beschluss treu bleiben möchte. Und noch eines hat das Experiment von dem Biologen mit dem buddhistischen Mandala gemein: er beschreibt eine Schönheit von unscheinbaren Pflanzen, Pilzen und Tieren, dass man nicht erwarten würde. Flechten beispielsweise haben einen so geringes Wachstum und sind so klein, farblich nicht auffällig, dass man denen keine Aufmerksamkeit schenkt. Dabei sind Flechten eines der faszinierendsten Pflanzen überhaupt. Sie gehen Gemeinschaften ein mit Bakterien, Algen und Pilzen und je nach Art entsteht ihre Farbe; ihr individuelles Dasein löst sich auf in der Gruppe mit den anderen Flechten, nach dem Motto: Einer für alle, alle für einen.

Die Flechten haben die Fesseln der Individualität abgestreift und konnten so vereint die Welt erobern: Sie bedecken ungefähr zehn Prozent der Landfläche unseres Planeten; im äußersten waldlosen Norden, wo meistens Winter herrscht, sind sie geradezu übermächtig.“
Seite 17

Andere Lebewesen sind aufgrund von Krankheitsübertragungen von vornherein unsymphatisch, das meiste Kleingetier ruft Ekel hervor und wenn es einem irgend möglich ist, geht man zum Beispiel der Zecke aus dem Weg. Schon allein das Wort „Zecke“ kann Schauder auslösen, Horrorgeschichten fallen einem sofort ein, vor allem aber die Furcht vor Gehirnhautentzündung lässt die Neigung zu, sofern man dieses Insekt sichtet, es zu töten. Vielleicht fällt einem auch noch der Roman „Das Parfum“ von Patrick Süskind ein, bei dem zu Beginn des Romans der Protagonist mit einer Zecke verglichen wird.
Mal abgesehen davon, dass es kaum eine Chance gibt, den Zecken aus dem Weg zu gehen, David Haskell erklärt in seinem Buch, warum das so ist, bekommt man durch den Biologen einen anderen Blickwinkel auf das Ungetier. Er schreibt über die Zecke: „Das hässliche, schmucklose Waffenarsenal am Kopf der Zecke rückt die aparte Schönheit ihres Körpers erst ins rechte Licht.“ 1

Wenn sich zwei Pilzfäden begegnen, verfallen sie in einen raffinierten Pas de deux und sprechen ihre Schritte dabei mit chemischen Liebesgeflüster ab. Als Eröffnungsschritt sendet einer der Fäden ein chemisches Signal aus, das seinen Partnertyp eindeutig zu erkennen gibt.“
S. 170

Bei diesem Sachbuch komme ich ins Schwärmen und ich könnte an dieser Stelle noch einiges benennen, doch aus zweierlei Gründen unterlasse ich es: Zum einen fehlen mir die fundierten Kenntnisse aus der Biologie, die David Haskell bei seinen Beobachtungen miteinbezieht, sodass man am Ende des Buches ein Mehrwissen hat als „nur“ über die Arten, die er sieht; zum anderen will ich das Lesevergnügen nicht schon vorweg nehmen.
Das verborgene Leben des Waldes“ ist purer Genuss. Biologische Vorgänge werden in einer erstklassigen literarischen Sprache wiedergegeben, man bekommt Kenntnisse und Erkenntnisse geschenkt, die ähnlich wie Anekdoten funktionieren: sie bleiben im Gedächtnis hängen. Ungefähr in der Mitte des Buches sind Momentaufnahmen quer durch die Jahreszeiten, Fotografien von einzelnen Arten und herrliche Waldaufnahmen.

Wer sich nur ein klitzekleines-bisschen für die Natur interessiert oder wer schon mal wissen wollte, wie alltagstauglich Meditationen aussehen können, wer ein Fable für eine wunderschöne literarische Sprache hat, sollte sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen.

– Andrea Müller –
© read MaryRead

Sachbuch


David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes
Ein Jahr Naturbeobachtung
Originaltitel: The Forest Unseen. A Year`s Watch in Nature
Übersetzung aus dem Englischen : Christine Amman
Sachbuch / 326 Seiten / gebunden
1. Auflage: 04.09.2015 / Verlag: Antje Kunstmann
ISBN 978-3-95614-061-7
Preis: 22,95 € (D), 23,60 € (A)



Das geheimnisvolle Leben der Waldpflanzen (SWR) :

Quelle ( ) : https://www.youtube.com/watch?v=gsEdgk7jAsQ


Bilder: alle Bilder sind von Susanne Grebe
Collage: Ute Fischer

1 David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung – Kunstmann-Verlag 2015, S. 150

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