„Der Geschmack der Sehnsucht“ von Kim Thúy

Foto: © Simone Jawor

Asiatische Gelassenheit

Die Lebenseinstellung der vietnamesischen Ich-Erzählerin in dem Roman „Der Geschmack der Sehnsucht“ von Kim Thúy ist geprägt von der asiatischen Weltanschauung, geprägt vom vietnamesischen Bürgerkrieg und seinen Folgen, geprägt von dem Verstoßen- und Angenommenwerden. Im Verlauf des Romans verändert sich ihre Lebenseinstellung fast unbemerkt .

In den Folgen des Zweiten Weltkriegs wird Vietnam 1945 unabhängig und der „KP-Chef Ho Chi Minh, Führer der 1941 gegr(ündeten) Vietminh (Befreiungsbewegung), ruft in Hanoi die Demokrat(ische) Rep(ublik ) 1 Vietnam aus.“ 2 In der Folge entsteht ein Machtkampf zwischen dem Norden unter kommunistischer Führung und dem Süden mit amerikanischer Ausrichtung . 3
Die Ich-Erzählerin bekommt den Krieg schon früh zu spüren. Ihre leibliche Mutter wird erschossen, die Übergangsmutter gibt sie weiter bis sie bei ihrer „wahren“ Mutter liebevoll aufgenommen wird. Bei ihrer wahren Mutter und durch die bittere Armut der Bevölkerung als Folge des Krieges lernt sie die verschiedenen wenigen Zutaten und Zubereitungen der vietnamesischen Küche kennen. Die Kunst des Kochens wird ihr Leben bestimmen .

Die menschliche Tragödie des Krieges ist das Eine, was ihr Leben ausmacht; das andere ist die asiatische Haltung .
Die Einbahnstraße von Gehorsam gegenüber den Eltern, Respekt gegenüber dem Ehemann, gepaart mit Unterwürfigkeit wird in der westlichen Welt weitestgehend abgelehnt. In anderen Kulturräumen ist solch ein Verhalten normal, wird von der jeweiligen Gesellschaft aufrecht erhalten .
Geprägt ist die Gesellschaft von Hierarchien, jeder Untergebener hat dem Höherstehenden Respekt zu zollen. Der Respekt ist sehr fein abgestimmt und für die westliche Welt kaum wahrnehmbar; Gefühle sollten weder geäußert noch gezeigt werden. Die Erziehung lehrt Fleiß und Pflichterfüllung .
In diesem gesellschaftlichen Kontext wächst die Ich-Erzählerin auf. Außerdem kommt erschwerend die politische Verfolgung hinzu, dass erst Recht den einzelnen dazu zwingt, unsichtbar zu sein. Ihre Familie muss das Land verlassen und sie stranden in Amerika . Sie sorgt für den Lebensunterhalt, arbeitet in einer Küche, wird dort entdeckt und ihr Leben bekommt eine Wendung. Sie wird zusammen mit Julie die Restaurant-Küche führen, lernt dabei die Liebe kennen und damit die Zerrissenheit zwischen Ehemann und ihrem Geliebten .

Eingeteilt ist der vorliegende Roman in kurze Kapitel, die zunächst wie ein Tagebuch wirken. Die Wirkung wird durch die einzelnen Begriffe in vietnamesischer und deutscher Sprache am Rande des Textes verstärkt. Kapitelweise wird zwischen Vergangenheit und Gegenwart abgewechselt, innerhalb der Gegenwart wird überwiegend im chronologischen Ablauf erzählt. Obwohl die Protagonistin über Äußerlichkeiten berichtet, über ihr Innenleben erfährt man erst gegen Ende des Romans, so schwingt dennoch ihre Gefühlswelt durch die Zeilen mit. Es ist die Art der Beschreibung einzelner Sachverhalte, die Vergleiche, die sie zieht. Obwohl ihr Lebenslauf von Verfolgung und Gewalt gekennzeichnet ist, erlebt man bei ihr keinen Zorn, sondern sie nimmt die Geschehnisse so wie sie kommen. Man kann es als asiatische Gelassenheit bezeichnen. Distanziert gefühlvoll berichtet sie aus ihrem Leben; man weiß nicht, ob das distanzierte Beschreiben aus ihrer Erziehung resultiert oder um von den vergangenen Ereignissen nicht überrollt zu werden .
Der Exilroman beschreibt in gewisser Weise den persönlichen Lebensweg der Autorin. Kim Thúy wird in Saigon geboren, flieht als zehnjährige mit ihrer Familie in den Westen. Der literarische Durchbruch gelingt ihr mit dem Werk „Der Klang der Fremde “.
Den beiden Übersetzerinnen, Andrea Alvermann und Brigitte Große, ist es gelungen, das distanziert gefühlvolle Erzählen aus dem Französischen ins Deutsche zu übertragen .

Das schmale Werk gibt Eindrücke aus dem vietnamesischen Bürgerkrieg und dem amerikanischen Leben. Zudem kann es Mut machen, nicht an den persönlichen Erfahrungen zu zerbrechen, sondern das Beste daraus zu machen .
Während des Lesens stellt man sich eine zierliche vietnamesische Frau vor, die dennoch sehr kraftvoll ist, die sich vom Leben leiten lässt, dabei wunderbare Menschen kennenlernt und ihren Mitmenschen fast unbemerkt viel Gutes schenkt .

– Christine Weber –
© read MaryRead

Belletristik


Kim Thúy: Der Geschmack der Sehnsucht
Titel der Originalausgabe: Mãn
Übersetzung aus dem Französischen : Andrea Alvermann und Brigitte Große
Roman
144 Seiten
gebunden
1. Auflage: 26.02.2014
Verlag: Antje Kunstmann
ISBN 978-3-88897-928-6
Preis: 16,95 € (D), 17,50 € (A)

Angaben zum Taschenbuch:
144 Seiten / 1. Auflage: 22.09.2015 / Verlag: dtv / ISBN 978-3-423-14446-9
Preis: 8,90 € (D), 9,20 € (A)


1 Die Ergänzungen in den Klammern sind alle von der Literaturkritikerin
2 Hermann Kinder, Werner Hilgemann: dtv-Atlas Weltgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Deutscher Taschenbuch Verlag – München 2000, S. 515
3 Ebenda

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