„Die Muse“ von Jonathan Galassi

Zerzauste Wahrheit“

Der verliebte Paul Duckach arbeitet im amerikanischen Verlag von Homer Stern und verfolgt dabei vor allem ein Ziel: Seine heißgeliebte Dichterin Ida Perkins für sich zu gewinnen, obwohl die Aussichten mehr schlecht als recht sind. Jonathan Galassi lässt in seinem Debütroman Die Muse die Dichterin auferstehen, entwirft eine Biografie und plaudert über die Buchbranche im Allgemeinen und über die Frankfurter Buchmesse im Besonderen.

Jegliche Hilfsmittel wie das Internet sollte man bei diesem Roman erst dann in Anspruch nehmen, wenn man die letzten Buchstaben des Buches erreicht hat, um sich dem Genuss der geheimnisvollen Lyrikerin Ida Perkins nicht entgehen zu lassen.
     Ida Perkins ist eine Verwandte vom Verleger Sterling Wainwright, der die Berühmtheit herausbringt. Sein ewiger Rivale Homer Stern versucht mit allen Mitteln sie für seinen Verlag zu gewinnen. Und Paul Dukach? Paul kennt jedes Detail aus dem Leben von Ida Perkins, verehrt sie und würde für sie alles tun, kein Weg kann weit genug sein, um sie nicht doch zu treffen. Er arbeitet als Lektor bei Homer Stern und er ist der einzige Mitarbeiter, dem es gelingt, von dem betagten Homer Stern als einen möglichen Nachfolger für den Verlag in Betracht gezogen zu werden.

Mit dem Roman setzt Jonathan Galassi ein Denkmal, ein Denkmal für die Lyrik, für die ordentliche Arbeit des Lektors und den unabhängigen Verlagen.
     Etliche Sequenzen werden temporeich geschildert und im richtigen Augenblick schiebt der amerikanische Schriftsteller eine Pause ein, lässt den Leser verweilen, dem überlassen wird, ob er sich das Bildhaft vorstellen mag oder einem Gedankengang – durchaus auch philosophischer Natur – nachhängen möchte.
     Ida gehört zwar nicht zu den neun Musen aus der griechischen Mythologie, stattdessen ist es die Kurzform von der Heiligen Iduberga, der Schutzpatronin für Schwangere und die Silbe id bedeutet im althochdeutschen Arbeit, Werk. Alle drei Umschreibungen treffen aber auf Ida Perkins zu. Ihr makelloses Erscheinungsbild ist vergleichbar mit der griechischen Göttin Aphrodite oder der römischen Göttin Venus, sie hat was Unnahbares, gleichzeitig ist sie erotischen Abenteuern nicht abgeneigt, wie die Affäre mit dem georgischen Dichter Dmitri Chavchavadze beweist. Eine Lebensgemeinschaft hat sie aber nur mit dem Dichter A. Outerbridge. Sie lehnt es ab über Literatur zu sprechen, weil es ihr unwürdig erscheint, die Fachsimpelei überlässt sie lieber anderen. Was sie liebt ist Klatsch und Tratsch.
    
Paul saugt alles über die Lyrikerin auf, was er bekommen kann. Ein Stalker ist er nicht, eher vergleichbar mit einem Fan, einem verliebten Fan, oder wie Erica Wagner in der New York Times am 16. Juni 2015 unter der Rubrik Sunday Book Review ihn sehr treffend als „rock-star poet“ bezeichnet, wobei für ihn das Erotische völlig belanglos ist, vielmehr handelt es sich um eine milde, wohlwollende und freundschaftliche Liebe, im platonischen Sinne sind für Paul die beiden Aspekte philia und agape von Bedeutung. Und so beginnt auch der Roman mit den Worten:

Dies ist eine Liebesgeschichte. Über die guten alten Zeiten, als Männer noch Männer, Frauen noch Frauen und Bücher noch Bücher waren.“ (S. 7)

Paul liebt Ida, weniger weil sie eine begehrenswerte Frau ist, sondern weil sie die beste Lyrik schreibt und es von ihr wunderschöne Gedichtbände gibt.

Der auktoriale Erzähler weiß nahezu alles über die amerikanische Verlagswelt, wann welcher Verlag gegründet wurde, welche Verleger noch unabhängig sind, welche Autoren sie herausbringen, die Rivalitäten innerhalb der Verleger und über das Gebaren der Frankfurter Buchmesse nach dem Zweiten Weltkrieg.

Frankfurt war im Grunde alles außer gesellig, es war Raubtierkunst vom Feinsten, mit vornehm europäischem Gesicht.“ (S. 138)

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Renommierte europäische Verlage bekommen hierbei ihr Fett weg, vor allem der französische Verlag Gallimard, der italienische Verlag Einaudi und der deutsche Verlag Rowohlt.
     Vieles von der Frankfurter Buchmesse in den 1950er und 1960er Jahre wird auch heutzutage noch zutreffen, bis auf eine Ausnahme: Die Hinterzimmer, in denen geschachert wird um Übersetzungsrechte und anderen Nutzungsrechten werden ohne dem kaum durchschaubaren Dunst des Zigarettenqualms sein.

Eine anmutende Biografie die ohne konkrete historische Daten auskommt, was die Realität nicht hergibt, wird von Jonathan Galassi dazu gedichtet und zwar so, dass es einem schwer fällt, zwischen fiktivem und reellen Begebenheiten zu unterscheiden, kurzum, es ist einezerzauste Wahrheit(S. 11), eine Wahrheit, die nach mehr verlangt. Manchmal jedoch überschreitet der amerikanischen Dichter und Schriftsteller das Fiktive zu sehr, wie die Ausrufung eines Nationalfeiertags durch Barak Obama, einige Ansichten des Autors stoßen einem auf und die Huldigung der alten Zeit versperrt den Blick auf neue Möglichkeiten der heutigen Buchbranche.

Der Roman gibt Einblicke in das Leben der Ida Perkins und von dem Lektor Paul, in den Alltag eines Verlags und hinter die Kulissen der Frankfurter Buchmesse. Nicht jeden werden solche Einblicke interessieren, dennoch kann man dem Roman nur wünschen, dass er viele Leser trifft. Mit distanziertem satirischem Blick, einfühlsamer Annäherung an eine zerbrechliche Liebe und wagemutigen Wortkapriolen und Neuschöpfungen füllt es genussvolle Lesestunden.

 © read MaryRead 2016

Belletristik

 

Jonathan Galassi: Die Muse
Originatitel: Muse
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Uljana Wolf
Roman
272 Seiten
erschien: 23.08.2016
Verlag: S. Fischer
ISBN 978-3-10-002294-3
Preis: 22,00 € (D), 22,70 € (A)

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