Liveticker: Dritter Tag vom Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017

Kritikerjury (von li. nach re.): Klaus Kastberger, Sandra Kegel, Stefan Gmünder, Hubert Winkels, Meike Feßmann, Michael Wiederstein, Hildegard Elisabeth Keller / 41. Tage der deutschsprachigen Literatur, Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 / Foto: © Johannes Puch

Gestern kristallisierten sich weitere Anwärter für den Bachmann-Preis heraus: Ferdinand Schmalz, Verena Dürr und Jackie Thomae.

Inhaltsverzeichnis :

Eröffnung

Tag 1: Donnerstag

Tag 2: Freitag

3. Tag, Samstag 8. Juli
> 11. Lesung: 10.00 Uhr Eckhart Nickel
> 12. Lesung: 11.00 Uhr Gianna Molinari
> 13. Lesung: 12.00 Uhr Maxi Obexer
> 14. Lesung: 13.00 Uhr Urs Mannhart

3. Tag, Samstag, 8.Juli

Heute lesen :

11. Lesung: 10.00 Uhr Eckhart Nickel
12. Lesung: 11.00 Uhr Gianna Molinari

Pause

13. Lesung: 12.00 Uhr Maxi Obexer
14. Lesung: 13.00 Uhr Urs Mannhart

Mal schauen, ob sich heute ein weiterer Kandidat oder eine weitere Kandidatin für den morgigen Bachmann-Preis herauskristallisiert.

11. Lesung: 10.00 Uhr Eckhart Nickel

41. Tage der deutschsprachigen Literatur, Autor: Eckhardt Nickel / Foto: © Johannes Puch

Eckhart Nickel wurde 1966 in Frankfurt am Main geboren, dort lebt er auch bis heute. Von 2004 bis 2006 war er Chefredakteur des Literaturmagazins DER FREUND (Axel Springer Verlag). Als Juror begleitete er u.a. den Clemens-Brentano-Preis. Letztes Jahr erschien „Weihnachten auf Besuch“ ( 2016 , Reclam ). Er wurde von Michael Wiederstein eingeladen.

Eckhardt Nickel liest aus dem Text „Hysteria“, ( ): Text – PDF

Stilistisch und thematisch hebt er sich von seinen Vorgängern / Vorgängerinnen ab. Thema: Der heutige Umgang mit Strom mit all seinen Widersprüchen.

Hildegard Elisabeth Keller : Ein toller erster Satz. Sinneseindrücke kann er nicht richtig verarbeiten. Eine Ambivalenz zwischen Gestern und Zukunft, in dieser Spannung bewegt sich der Protagonist . Eine überkandidelte Sprache, aber das braucht auch der Text, sehr präzise. Sie ist sehr von dem Text angetan.

Hubert Winkels : Ein sehr fremdes Verfahren. Im Grunde gerät Bergheim in eine Turmgesellschaft (Kooperative). Motiv aus „2001: Odyssee im Weltraum“, ein rasender Wechsel der Medienbetrachtungen (gefällt ihm ausgezeichnet gut). Alles ist gut aber zu viel des Guten.

Stefan Gmünder : Eine sehr gute Darstellung, wie ein Mensch viel zu viel wahrnimmt und darüber wahnsinnig wird. Gleitet leider später ins Symbolhafte ab, zu sehr in Intertextualität verhaftet. Letztendlich vertraut der Autor aber nicht seinem eigenen Text wie es am letzten Satz nochmals deutlich wird.

Sandra Kegel : Die hypergenaue Empfindung fächert den Text auf, eine Schilderung von typisch deutschem Setting; teilweise humorvoll.

Meike Feßmann : Hofmannsthal´s Brief scheint so etwas wie eine Grundlage gewesen zu sein, etliche literarische Bezüge (Kafka, Goethe …). Kann man noch heute solche Dekadenztexte schreiben?

Hubert Winkels : Die Zivilisationskritik ist hier ziemlich genau benannt.

Klaus Kastberger : Ich mag diese Käfergeschichten, könnte durchaus intensiver sein. Er ist ein extremer Gegenteil von dem, was wir bisher gehört haben. Der Text beinhaltet viel Aktualität, ein journalistischer Text, und das Unstimmige in der Welt wird an Bergheim und Co deutlich. Die große Welt funktioniert nicht mehr, also erprobt man die kleine Welt. Aber kann man der kleinen Welt, der Biowelt (Über-Bio) trauen? Man sieht die Probleme aber zum Glück liefert der Text keine Antworten.

Meike Feßmann an Klaus Kastberger : Der Hofmannstahl-Faden reicht Ihnen schon, um diesen Text gut zu finden.

Michael Wiederstein : Hier kommt noch ein weiterer typisch deutscher Aspekt zum Tragen: Früher war alles besser, ebenso die Romantik-Sehnsucht wird deutlich, dass die Deutschen schon einmal in die Katastrophe geführt hat (vgl. Rüdiger Safranski: Romantik). Ein rundherum gelungener Text.

Hildegard Elisabeth Keller : Im Text wird die verminderte Kritikfähigkeit der Kritiker (Kooperative) deutlich.

Klaus Kastberger : Adalbert Stifter dringt hier durch. Darf man das? Ja. Ich rechne dem Eckhardt Nickel hoch an, dass er nicht in eine Sprache aus dem 19. Jahrhundert verfällt.

Kommentar : Diesem Text ist es sehr wünschenswert, dass er einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, da er unser heutiges Weltbild (Deutschlandbild) sehr genau beschreibt und eine gute Grundlage für eine breite Diskussion liefert, einer notwendigen Diskussion, wohin wir wollen, wie unsere Zukunft aussehen sollte.

12. Lesung: 11.00 Uhr Gianna Molinari

41. Tage der deutschsprachigen Literatur, Autorin: Gianna Molinari / Foto: © Johannes Puch

Geboren wurde Gianna Molinari 1988 in Basel, von 2009 bis 2012 studierte sie Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie ist Mitgründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“. 2012 gewann sie den 1. Preis und Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbs. Eingeladen wurde sie von Hildegard Elisabeth Keller.

Gianna Molinari liest aus dem Text „Loses Mappe“, ( ): Text – PDF

Ein mutiger Text über ein Phänomen, der heutzutage immer öfter Realität wird: Ein Unbekannter stirbt. Wer übernimmt die Kosten für ein Begräbnis? Wie soll die Beerdigung aussehen? Wer nimmt das Eigentum des Unbekannten an sich?
Fiktion und Journalismus (unterstützt durch Fotos) treffen hier zusammen.

Hubert Winkels : Emphatisches und / oder philosophisches Ereignis? Die Sprache spiegelt das Langweilige, dass was Behörden tagtäglich erleben: Es findet ein Ereignis statt und die Verwaltung nimmt ihre Arbeit auf. Interessant ist, dass hier Fotos eingefügt wurden (was wohl noch nie im Bachmann-Wettbewerb vorgekommen ist) und eine Wirkung hat, eine Wirkung neben der Sprache.

Stefan Gmünder : Ein Beamter kommt ins Taumeln, als der Unbekannte vom Himmel fällt. Hier gelingt der Autorin exemplarisch, wie man das Geschehen auf drei Ebenen gelungen beschreiben kann.

Sandra Kegel : Wir haben zwei Seiten: Das Nichthinschauen und die Dokumente. Das Sehen wird sichtbar gemacht, durch Fotos und Zeitungsausschnitte. Eigentlich sind die Bösewichte in der Literatur die für Spannung sorgen, doch hier wird eine Figur genommen, der eigentlich hoffen muss, dass nichts passiert, eine Figur, die in der Literatur äußerst selten vorkommt.

Klaus Kastberger : Sehr gut gelungen ist die Szene, in der die Gemeinde darüber diskutiert, wer die Kosten für die Beerdigung übernimmt.

Michael Wiederstein : Das Erschreckende ist, dass es nur zwei Personen gibt, die sich überhaupt für den Todesfall des Unbekannten interessieren, obwohl es doch in diesem Dorf ein Großereignis sein müsste.

Hildegard Elisabeth Keller : Der Text verschränkt das Globale und das Lokale, extreme Parataxe spiegeln es wieder. Der eine, der hofft, dass sich nichts in seinem Leben ändert (Wachmann Lose) und der andere, der hofft, dass sich etwas in seinem Leben ändert (Unbekannte). Ein außerordentlich gelungener Text.

Meike Feßmann : Lobenswert, dass eine junge Autorin versucht, mit neuen Mitteln auf die Welt zu schauen.

13. Lesung: 12.00 Uhr Maxi Obexer

41. Tage der deutschsprachigen Literatur, Autorin: Maxi Obexer / Foto: © Johannes Puch

Maxi Obexer wurde 1970 in Brixen (Südtirol / Italien) geboren. Sie ist Theaterautorin und Schriftstellerin, Gründerin des Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben. Lange bevor die Schiffskatastrophen mit Flüchtlingen im Mittelmeer im deutschsprachigen Raum wahrgenommen wurden, rückte sie die europäische Einwanderungspolitik in den Mittelpunkt ihrer Arbeit und fragt seither nach der Bedeutung Europas. In diesem Jahr erschien das Theaterstück „Gehen und Bleiben“. Eingeladen wurde sie von Meike Feßmann.

Maxi Obexer liest aus dem Text „Europas längster Sommer“, ( ): Text – PDF

Mit kluger Wortspielerei nähert sie sich dem Thema Einwandern, Einwanderungspolitik mit der Differenzierung zwischen europäischen Bürgern, Flüchtlingen und anderen.

Hubert Winkels : Das Klischee-Bild über die Festung Europas passt ihm hinten und vorne nicht. Völlig misslungen sind die beiden Ebenen der Ich-Erzählerin und der anderen Migranten, die Zweiteilung der Welt von weiß und schwarz, von gut und böse; typisch linksliberale Weltanschauung.

Meiße Feßmann : „Ich sage schon an früher Stelle etwas, da ich befürchte, dass es ansonsten jetzt weiter in eine falsche Richtung geht.“ Hierum handelt es sich nicht wirklich um einen reinen literarischen Text, vielmehr kommen autobiografische Elemente (wie ihre Herkunft aus Südtirol) zum Tragen. Nicht die Sprache sollte hierbei im Mittelpunkt stehen (dass man zig-Mal durchgekaut hat) sondern die Autobiografie.

Stefan Gmünder : „Natürlich geht es hier um Sprache.“ Er hält den Text für misslungen.

Sandra Kegel : Die Österreicherin Eva Menasse sagte mal „in Berlin bin ich mehr Österreicherin als in Österreich“. Jedoch fehlt die literarische Finesse; eine starke moralische Wertung der Ich-Erzählerin.

Meike Feßmann : Ist Moral in einem Text verkehrt?

Klaus Kastberger : Klassischer Double-Bind: Ausländer – Einwohnermeldeamt, präzise Beschreibung zwischen Willkommenskultur und Rausschmeißen. „Worüber darf man in einem literarischen Text schreiben?“ Die Literatur muss Themen, unbequeme Themen aufnehmen und besprechen. Es ist gut, dass hier drei Themen (Coming Out, Wohlstand und Flüchtlinge) miteinander verschränkt werden und es ist gut gemacht. Die Sprache ist adäquat.

Hildegard Elisabeth Keller : Stimmig ist die Stimme der Ich-Erzählerin, teilweise unstimmig ist hingegen, wenn sie die Position als Beobachterin einnimmt.

Meiße Feßmann : „Schön ist, dass Herr Kastberger und ich zum ersten Mal einig sind.“

Klaus Kastberger : „Dafür haben wir drei Jahre gebraucht.“ (Gelächter)

Michael Wiederstein : Hier geht es um die unterschiedliche Bewertung vom Freiheitsbegriff, die im Text zu wenig miteinander kommunizieren.

Hubert Winkels : Wir können immer nur aus unserer Sicht etwas benennen, beschreiben und können nicht wirklich in eine andere Person schlüpfen, auch wenn wir es noch so sehr wollen.

14. Lesung: 13.00 Uhr Urs Mannhart

41. Tage der deutschsprachigen Literatur, Autor: Urs Mannhart / Foto: © Johannes Puch

Urs Mannhart wurde 1975 in Rohrbach (Schweiz) geboren. Urs Mannhart taucht immer wieder ab in literaturferne Bereiche, sei es, um möglichst gehaltvolle Stoffe zu sammeln für seine Reportagen und Romane, sei es, um Kontraste herzustellen zur literarischen Arbeit. Zuletzt erschien von ihm „Bergsteigen im Flachland“ (2014, Secession Verlag). Eingeladen wurde er von Michael Wiederstein.

Urs Mannhart liest aus dem Text „Ein Bier im Banja“, ( ): Text – PDF

Eine langweilige Story über die Erlegung eines Wolfes.

Stefan Gmünder : Er vergleicht den Text mit John Steinbeck. Er findet die Geschichte gut.

Sandra Kegel : Eine Provokation für uns: Auf der einen Seite gehen Frauen Berufen nach wie Ärztin, gleichzeitig fragen sie ihre Ehemänner um Erlaubnis.

Klaus Kastberger : Er hat große Schwierigkeiten mit dem Text, der ist nicht von den Texten aus dem 19. Jahrhunderten über Wölfe zu unterscheiden. Mit Sicherheit kommt gleich in der Diskussion noch „Ironie“ auf.

Hubert Winkels : Er findet es interessant, dass die ersten beiden Redner als erstes sich über Emanzipation äußern, dabei geht es doch in erster Linie um Wölfe. Lediglich wird nur eine Szene beschrieben: einen Wolf zu töten. Es ist grundsätzlich kein ironischer Text wobei man den im Kontext mit ähnlichen Themen betrachten sollte und dann könnte es doch … Das modernster an der Geschichte ist, dass diese in Klagenfurt gelandet ist.

Michael Wiederstein : „ Literatur hat die Verantwortung sich einzulassen auf die Welt .“ (Zitat aus der 18. Klagenfurter Rede von Franzobel ). Hier wird auf Pathos verzichtet. Immer an den Stellen, wo der Erzähler zunächst nicht weiterkommt, setzt er den Bohrer neu an und bohrt sich durch viele Ebenen somit hindurch.

Hildegard Elisabeth Keller : Wem es gefällt … „Urs Mannhart kann schreiben“, sehr konsequent durchkomponiert und sehr reduziert. Gelungen.

Meike Feßmann : Man muss sich mit keiner Figur identifizieren, um den Text gut zu finden.

Stefan Gmünder : „Kunst ist zum Leben da.“ (Hegel) Er findet den Text gut.

© read MaryRead 2017

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