Interkulturelle Literatur (literarischer Fachbegriff)

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Inhaltsverzeichnis:
Gattung oder ein anderes Thema?
1 Auffassung und Widerspruch
2 Eine neue Definition
3 Schriftsteller und Literaturpreise
4 Debatten

Einzelnachweise

Unter Interkulturelle Literatur werden Themen wie Vermittlung von Kultur, Flucht und Migration zusammengefasst. Die Sammelbezeichnung findet in jeder literarischen Gattung ihren Ausdruck.

 

Auffassung und Widerspruch

In der allgemeinen Literaturwissenschaft wird Interkulturelle Literatur – manchmal wird sie auch als Migrantenliteratur bezeichnet – als eigene literarische Gattung aufgefasst.

Dieser Auffassung muss widersprochen werden aus folgenden Gründen:
    
Die Aufteilung der Literatur erfolgt nach einem ähnlichen Schema wie in den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie mit der Kategorisierung der Lebewesen. Dabei berücksichtigt die Biologie äußere und innere Merkmale eines Lebewesens, ordnet sie einer Gattung, Untergattung usw. zu.
    
Literaturwissenschaftler stellen sich bei einem Text die Frage, welche Merkmale weist ein Schreiben auf? Sind die Merkmale geklärt, wird der Text in einer der literarischen Gattungen (Roman, Fabel, Drama, Gedicht, Reiseliteratur, Sachbuch, Märchen) zugeordnet, zuweilen wird es auch in einer der Untergattungen wie historische Romane, Kriminalromane oder lyrische Form eingeordnet.
    
Neben der eindeutigen Zuordnung von Texten in Gattungen gibt es – ähnlich wie in der Biologie – Grenzfälle, die man nicht so ohne weiteres eines der Literaturgattungen oder Untergattungen zuordnen kann. Solch ein Grenzfall stellt beispielsweise das Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies dar. Weder ist es eindeutig ein Sachbuch, noch ein Essay, noch eine nachträgliche Tagebuchaufzeichnung vielmehr weist es von allem Etwas auf.
    
Spätestens seit Die literarische Moderne eingeläutet wurde, wird in der Literatur experimentiert, man denke nur an den Dadaismus, die Grenzen zwischen den Gattungen sind seitdem fließend. Trotz alle dem kann Literatur weiterhin zu- und eingeordnet werden, indem man entweder verschiedene Gattungen vermischt oder man findet eine neue Bezeichnung wie Lautgedichte. Die Interkulturelle Literatur hingegen – ähnlich wie die Arbeiterliteratur und auch weitestgehend die Exilliteratursind in allen Gattungen anzutreffen. Im Falle der Exilliteratur sowie Interkulturelle Literatur steht man vor der Herausforderung, diese einer Nationalität zu zuordnen. Um dem Nationalitätengetümmel aus dem Weg zu gehen, kreiert man lieber eine neue Gattung und steht vor neuen Herausforderungen. Vor allem aber wird sie somit dem Geruch der Abwertung nicht mehr los.
      Interkulturell ist ein Begriff, der zurzeit in Deutschland zu einem Modewort geworden ist, dass eine Multikultur mit einschließt. Umso erstaunlicher ist es, welche Bewertung sich hinter der Bezeichnung Interkulturelle Literatur verbirgt. Aber nicht nur das. Seitdem die Literaturwissenschaft aus Interkultureller Literatur eine eigenständige Gattung erstellte, muss die Biografie des Schriftstellers miteinbezogen werden, denn man kann die Literatur eines Autors nur dieser Gattung zuordnen, wenn dieser in seinem Lebenslauf einen Ortswechsel über politische Grenzen vollzogen hat. Somit geht die neutrale Herangehensweise an einen Text verloren, man ordnet nicht mehr nach äußeren und inneren Kriterien einer Schrift in eines der Gattungen oder Epochen zu, vielmehr wird der Lebenslauf in den Vordergrund gerückt. Mit dieser Herangehensweise steht die Literaturwissenschaft vor dem nächsten Problem. Bernd Stratthaus hat in seiner Dissertation Was heißt „interkulturelle Literatur“? Sehr anschaulich die Problematik dargelegt. Unter anderem fragt er darin, ob ein Albert Camus der Interkulturellen Literatur zugeordnet werden muss, da er in Algerien geboren wurde, ein Teil seiner Werke wie die Erzählungen Der Fremde (Lˡétranger, 1942 und dt. 1948) oder Die Pest (La peste, 1947 und dt. 1948) als Handlungsort Algerien haben, aber seine Werke in französischer Sprache verfasste? Oder gehören die Kriminalromane von Henning Mankell zur Interkulturellen Literatur, weil der schwedische Schriftsteller einen Teil seines Lebens in Afrika verbrachte und in etlichen Werken die Kultur widerspiegeln wie im Roman Der Chronist der Winde (Comédia infantil, 1995 und dt. 2000) oder wie im Kriminalroman Die weiße Löwin (Band 3 mit Kurt Wallander, Den vita lejoninnan, 1993 und dt. 1995)? Wie sieht es mit der Bachmann-Trägerin Sharon Dodua Otoo aus, deren Eltern aus Ghana stammen, sie wuchs in Großbritannien auf, verfasst einige ihrer Schriften in englischer Sprache? Gehört auch sie nach Definition der allgemeinen Literaturwissenschaft zur Interkulturellen Literatur? Wohl kaum. Weshalb will die Wissenschaft eine eigene Gattung für jene Menschen, die unter Umständen in der zweiten oder dritten Generation nicht mehr in dem Land leben, wo ihre Vorfahren herstammten? Einige von ihnen thematisieren (selten durchgängig) Migration in ihren Werken wie Rafik Schami. Etliche von ihnen weisen aber auch ganz andere Themen auf. Dennoch werden sie, wie Bernd Stratthaus in seiner Dissertation schildert, von der Literaturwissenschaft in die Interkulturelle Literatur gepresst. Gilt diese Zuordnung auch dann noch, wenn Schriftsteller in der fünften oder sechsten Generation nicht mehr in dem Staat ihrer Vorfahren leben? Anders gefragt: Ab wann ist man nach der Definition der allgemeinen Literaturwissenschaft kein interkultureller Literat mehr?
    
Die allgemeine Auffassung von Interkultureller Literatur hat demnach den Boden der Wissenschaft verlassen und sich in den Bereich der Willkür begeben. Um der Willkür zu entkommen, braucht man eine neue Definition.

 

Eine neue Definition

Wie schon erwähnt, ist das Thema Interkulturelle Literatur in allen Gattungen zu finden.

Jede Art von Literatur, dass der Vermittlung zwischen den Kulturen dient, ist interkulturell. Davon abzugrenzen sind Werke, die zwar eine Kultur vermitteln, aber dabei lediglich eine einzige Kultur beschreiben. Ebenso ist davon abzugrenzen, wenn zwar mehr als eine Kultur Eingang in ein Werk findet, diese aber nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen. Zudem sind zwei- und mehrsprachige Bücher nicht zwangsläufig interkulturell.
     Interkulturelle Literatur umfasst die Gattungen Märchen, Bilder , Kinder- und Jugendbuch, Roman, Fabeln und Gedichte.

Zwischen Tradition und Moderne, zweisprachiges BilderbuchBei dem Märchenbuch Prinzessin Sharifa und der mutige Walter, nacherzählt von Anne Richter werden zwei Märchen aus verschiedenen Kulturen gleichberechtigt nebeneinander erzählt. Die eine Legende stammt aus der Schweiz und erzählt über Wilhelm Tell, das andere Märchen stammt aus Ägypten und erzählt über eine kluge junge Frau. Beide Märchen sind im Kinderbuch von Anne Richter zweisprachig abgedruckt.
     Dem Leser wird aus beiden Kulturen ein Märchen erzählt, dass für die jeweilige Kultur von großer Bedeutung ist. Wilhelm Tell gilt in der Schweiz beispielsweise als ein Nationalheld.

Im Bilderbuch Wo holt der Nikolaus seine guten Sachen? von Silvia Hüsler bereist der Heilige etliche Erdteile, um die Zutaten für Gebäck und ähnliches zusammenzustellen. Hierbei wird Kindern ein kleiner Ausschnitt aus der Kultur des jeweiligen Landes erzählt, ebenso bekommen sie vermittelt, woher die Legende über den Nikolaus stammt.

Rafik Schami stellt in seinem Roman Sophia oder Der Anfang aller Geschichten vor allem zwei Kulturen nebeneinander: Die italienische und die syrische. Besonders deutlich wird es an der Gegenüberstellung von Familienkonzepten. Der Protagonist des Romans ist in Italien verheiratet und hat einen Sohn. Seine Frau ist Dozentin an einer Universität. Er selber ist Kaufmann. Dann reist er nach Syrien in die Großstadt Damaskus. Sobald er dort ankommt, findet ein großes Familientreffen statt, bei der die große Sippe eingeladen ist.
     Von der Quantität her wird die syrische Kultur deutlich mehr beschrieben als die italienische, dennoch handelt es sich um Interkulturelle Literatur, da beide Kulturen gleichwertig nebeneinander stehen. Die eine Kultur steht nicht über der anderen, keine ist besser als die andere, sondern sie werden von Rafik Schami in ihrer Andersartigkeit so dargestellt, wie er sie als Schriftsteller wahrnimmt.
    
Der Roman wurde in deutscher Sprache verfasst, der Kontext jedoch bildet Italien und Syrien, ein weiteres Indiz dafür, weshalb es nicht als Migrantenliteratur bezeichnet werden kann.

Die Fabel Funklerwald von Stefanie Tachinski spielt sich in einem Wald ab mit zahlreichen verschiedenen Tieren, jeder hat seine Behausung, jede Tiergattung hat sein Revier und sein Symbol. Eines Tages wandern in den Wald die Waschbären. Zügig Habe Mutentstehen zwei Lager, die einen wollen die Waschbären los werden, weil es Fremde sind, die anderen setzen sich für sie ein, dass sie bleiben können.
     Ebenso wird in dem Bilderbuch Leopold und der Fremde von Stephan Brülhart zwei unterschiedliche Tiergattungen (Krokodil und Jaguar) benannt, die sich aus dem Weg gehen, bis die Kinder durch Zufall sich kennen lernen und feststellen, dass man mit dem anderen hervorragend spielen kann.

Bis auf die beiden letztgenannten Fabeln sind alle anderen Werke aus der mehrsprachigen und mehrkulturellen Erfahrung verfasst worden.1 Silvia Hüsler lebt in der Schweiz, einem Land, indem drei Sprachen gesprochen wird: französisch, deutsch und italienisch. Das Märchenbuch von Anne Richter ist aus einem Theaterprojekt entstanden, als sich Schauspieler aus Ägypten und Deutschland in Mannheim trafen.
     Der aus Syrien stammende Schriftsteller, Rafik Schami, lebt in Deutschland in einer Minderheitensituation und verfasst seine Literatur in deutscher Sprache. In seinen Werken trifft man auf orientalische Elemente genauso wie auf deutsche Erzähltradition.

Ansatzweise weist das Gedicht Wohin gehst du? von Simone Jawor Merkmale von Interkulturelle Literatur auf. Im Gedicht wird sich mit dem Thema Flucht beschäftigt. In Ansätzen findet man auch das Thema Interkulturelle Literatur in dem Roman Reise um die Erde  in 80 Tagen von Jules Verne, im Jugendroman Schwarze Lügen von Kirsten Boie sowie im Bilderbuch Elmar und seine Freunde von David McKee.

 

Schriftsteller und Literaturpreise

Obwohl die Definition der allgemeinen Literaturwissenschaft etwas Anrüchiges, vielleicht sogar etwas Diskriminierendes an sich hat, wird deren Auffassung von Autoren wie Rafik Schami oder Feridun Zaimoglu unterstützt.
     In der Reihe Südwind-Gastarbeiterdeutsch und Südwind-Literatur befassen sich Rafik Schami und Franko Biondi mit der Sprache der Gastarbeiter in der Literatur. Darin wird die Auffassung von Bildungsferne und unzureichenden Sprachkenntnissen der Literaten von Zugezogenen aus anderen Staaten zementiert. Von beiden wird der Ausdruck Literatur der Betroffenheit angewendet und eineAffinität zur Arbeiterklassehergestellt.2 
     Zum einen gibt es keine Zwangsläufigkeit der Bildungsferne von nicht-deutscher Herkunft, zum anderen steht man vor derselben Problematik, wie oben schon beschrieben, nämlich die Biografie eines Schriftstellers muss mit einbezogen werden, die neutrale Herangehensweise an einen Text geht auch hierbei verloren.

Feridun Zaimoglu ist zurzeit Mitglied der Jury vom Adelbert-von-Chamisso-Preis, ein Literaturpreis, der nur an Migranten vergeben wird.
     Vielleicht glaubte man wirklich, dass man mit einer eigenen Auszeichnung für Migranten etwas Gutes und Sinnvolles tut, vielleicht wollte man tatsächlich signalisieren, dass man sie wahrnimmt, aber letztendlich wird die Herkunft eines Schriftstellers in den Vordergrund gerückt und weniger sein Können.

 

Debatten

Bislang läuft der Diskurs über Interkulturelle Literatur darauf hinaus, dass Schriftsteller nach ihren Biografien gefragt werden müssen, um die Texte zu bewerten. Ein Literaturnobelpreis wurde für die Gattung bisher nicht vergeben.
     Wie sehr die Debatte um Interkulturelle Literatur gegenwärtig ist, konnte man beim Bachmann-Wettbewerb 2016 beobachten. Als Tomer Gardi seinen Text vortrug, sah man in der Jury ratlose Gesichter, eine von ihnen stellte sogar die Frage, ob das Literatur sei. Die Sätze von Tomi Garder sind unvollständig, die Sprache klingt nach einem gebrochenem Deutsch. Selbstverständlich ist das Literatur. Ähnliche Fragen stellte man sich spätestens beim Aufkommen des Dadaismus ebenfalls, aber auch schon zuvor, als Dialekte Eingang in die Literatur fanden, wie das Berlinerische bei Irmgard Keun im Roman Gilgi, eine von uns (1931) oder die Lautgedichte von Kurt Schwitters und Hugo Ball.

Es ist noch ein langer Weg, bis Schriftsteller nicht-deutscher Herkunft denselben Stellenwert eingeräumt bekommen, wie ihre Kollegen aus der Mehrheitsgesellschaft.

Regina Hennings
© read MaryRead

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Einzelnachweise:
1 Vgl. Hrsg.: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff: Metzler Lexikon Literatur, Verlag J. B. Metzler – Stuttgart – Weimar 2007, S. 498 f.
2 
Bernd Stratthaus: Was heißt „interkulturelle Literatur“?, Dissertation in Literatur- und Sprachwissenschaft, Universität Duisburg-Essen 2005, S. 27


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