„Die bezifferte Welt“ von Colin Crouch

Wer ist Neoliberal?

Sandra Ingeving : Ich begrüße Sie liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, Zuhörerinnen und Zuhörer zu unserer heutigen Ausgabe Let`s talk about… . Euch beide – Felicitas Lys und Timo Kermblösen – heiße ich herzlich willkommen .
Heute möchten wir uns dem großen Feld der Wirtschaft annähern. Dafür haben wir das Sachbuch „Die bezifferte Welt“ von Colin Crouch gelesen und wollen gleich darüber sprechen .
Auf der diesjährigen lit.Cologne war der Wirtschaftsnobelpreisträger Alvin E. Roth mit seinem Buch „Wer krieg was – und warum?“ zu Gast. ( wendet sich an Felicitas ): War das für dich Felicitas Anlass, mit der Wirtschaft im Allgemeinen auseinander zu setzen ?

Felicitas Lys : Nicht ganz, oder anders gesagt: Mal wieder. Aber begonnen hat es bei mir mit dem Roman „Eine Billion Dollar“ von Andreas Eschbach. Ich kann mich noch sehr genau an die Zeit erinnern, als ich ich dieses Buch las. Es war im Frühling 2003, herrlicher Sonnenschein und ich saß draußen auf der Terrasse und las dieses Buch. Geliehen hatte es mir eine Freundin und zunächst war ich nicht sehr begeistert. Doch das änderte sich schnell. Mit dem zuklappen des Romans wurde mir zweierlei deutlich: Wirtschaft kann sehr spannend sein und ich habe viel zu wenige Kenntnisse darüber .

Sandra Ingeving : Das ist schon einige Jahre her. Kannst du uns bitte kurz das Buch zusammenfassen, so dass wir wissen, wovon du sprichst .

Felicitas Lys : Gerne kann ich den Roman zusammenfassen. Ein Pizzafahrer erbt unerwartet eine Billionen Dollar. Er darf nahezu alles mit dem Geld machen was er möchte, aber es muss sinnvoll sein. Das stellt sich für ihn schwieriger heraus, als er zuerst annahm. Bei jeder Idee, die er hat, erkundigt er sich sehr genau über den Sachverhalt und es entfaltet sich ein Wirtschaftspanorama, der Leser wird mitgenommen und bekommt Einblicke in Institutionen, Staaten, Vereine und ähnliches. Irgendwann kommt er zu der schockierenden Erkenntnis: eine Billionen Dollar ist viel Geld, sehr viel Geld, Dagobert Duck hätte seine Freude daran, aber es reicht nicht, um die Welt zum Positiven zu verändern. Während der Roman von Andreas Eschbach einen ratlos zurück lässt, war hingegen die Veranstaltung mit Alvin E. Roth geradezu wohltuend. Ich muss jedoch gestehen, dass mir bis zu dem Abend nicht ganz klar war, was sich hinter dem Begriff „Marktdesign“ verbirgt .

Sandra Ingeving : Du hast auch an der Harvard University studiert. Bist du Alvin E. Roth mal begegnet ?

Felicitas Lys : Ich war damals sehr mit meinem Studium beschäftigt, sodass ich wenig wahrnahm. Vielleicht bin ich ihm mal begegnet, aber wenn, dann habe ich nicht gewusst, wer er war .

Sandra Ingeving : Timo, du bist fast fertig mit deiner Ausbildung zum Schreiner. Hast du dich in der Vergangenheit mit Wirtschaftsfragen beschäftigt ?

Timo Kersenblösem : Mir ging es ähnlich wie Felicitas. Auch bei mir war es ein Roman, aber mit einem deutlich schmalerem als „Eine Billion Dollar“. Ich spreche von Alle meine Wünsche “ von dem französischen Schriftsteller Gregoire Delacourt. Darin erbt die Protagonistin zwar nicht, stattdessen gewinnt sie beim Lotto ungefähr 18 Millionen. Sie hatte zuvor noch nie Lotto gespielt und zu diesem Spiel wurde sie von Freunden überredet, es trifft sie also unerwartet. Auch sie stellt sich die Frage, ähnlich wie der Pizzafahrer, was sie mit dem Geld machen soll, aber für sie geht es nicht um die Weltrettung, sondern sie fragt sich, inwiefern das viele Geld sie und ihr Umfeld verändern wird, kurz gesagt: Was macht das Geld mit ihr ?

Sandra Ingeving : Der Schriftsteller hat sich anscheinend tendenziell philosophisch dem Thema angenähert. Es klingt so, als würde Geld Macht über einzelne haben, über die Protagonistin, als sei das Geld der Aktive und sie das Passive. Ist dem so ?


Timo Kersenblösem
: Letztendlich läuft es darauf hinaus, bis sie einen Entschluss fasst
.

Sandra Ingeving : Zwei Romane mit einer ähnlichen Ausgangssituation, aber mit unterschiedlichster Fragestellung. Beide haben was deprimierendes. Wie sieht es mit dem Sachbuch „Die bezifferte Welt“ von Colin Crouch aus ?

Felicitas Lys : Hierin wird die Frage aufgworfen, wer eigentlich regiert, sind es die Politiker oder die Global Player, wer nimmt wann und wo Einfluss und vor allem, welche Auswirkungen hat der Neoliberalismus ?


Timo Kersenblösem
: Ich finde den Begriff Neoliberalismus sehr merkwürdig
.


Felicitas Lys
: Was ist daran merkwürdig
?


Timo Kersenblösem
: Gegenfrage: Was verstehst du unter Liberalismus
?

Felicitas Lys : Es handelt sich dabei um die größtmögliche Freiheit de s einzelnen. Die Idee sollte die Machtfülle der früheren Monarchen einschränken, dass sich in der Theorie der Gewaltenteilung von Montesquieu widerspiegelte .

Timo Kersenblösem : Und hierin liegt der springende Punkt. Warum sollte sich daraus der Neoliberalismus entwickeln, wenn ein Grundpfeiler des Liberalismus die Gerechtigkeit ist? Weil mir das sehr suspekt war, habe ich mal im Internet recherchiert. Demnach wird der Begriff Neoliberalismus in den Zusammenhängen, wo er heutzutage Verwendung findet, falsch benutzt .


Sandra Ingeving
: Was hast du herausgefunden
?

Timo Kersenblösem : Laut Wikipedia ist der Neoliberalismus aus verschiedenen Schulen entstanden. Die Wirtschaftstheoretiker wollten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen dritten Weg einschlagen, der antikommunistisch und zugleich antikapitalitisch sein sollte. Eine der Säulen ist die soziale Marktwirtschaft. In den 1970er Jahren wurde der Begriff zum ersten Mal falsch verwendet, als man die USA wegen Lateinamerika scharf kritisiert und seitdem benutzt ihn jeder, der etwas an unserem Wirtschaftssystem auszusetzen hat. Richtig wäre jedoch von „Marktfundamentalismus“ zu sprechen . 1


Felicitas Lys
: Na ja, jeder weiß doch, was mit Neoliberalismus gemeint ist
.

Timo Kersenblösem : Dem muss ich entschieden widersprechen. Genau das ist nicht der Fall. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass viele das Wort benutzen und dabei so tun, als wüssten sie, wovon sie sprechen, tatsächlich aber wissen sie es offensichtlich nicht. Auch Colin Crouch scheint es nicht genau zu wissen, ansonsten hätte er es erklärt .

Sandra Ingeving : Oder man will es nicht wissen, da Neoliberalismus gleichzeitig auch immer anti-amerikanisch bedeutet .


Timo Kersenblösem
: Genau! Die Kritik käme ins Schleudern
.

Felicitas Lys : Man kann sich auch an einem Wort festbeißen. Tatsache ist doch und das beschreibt auch Colin Crouch in seinem Buch, dass es Auswüchse in der Wirtschaft gibt, die Nachteile für den einzelnen Bürger mit sich bringen. Er beginnt mit einem Beispiel aus der Medizin, das Sprengkraft hat. Im Oktober 2014 wurde in Großbritannien bekannt, dass Ärzte für jede erstellte Diagnose Demenz 55 Pfund erhalten sollten. Die Bevölkerung lief zurecht Sturm, denn sie sahen darin die Gefahr, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten empfindlich gestört werden würde .

Timo Kersenblösem : Ja, er skizziert sehr eindringlich viele Auswüche der Wirtschaft und wahrscheinlich entsprechen die Beispiele der Realität. Ich habe aber ein Problem damit, wenn man dafür immer nur einen Bösewicht kennt: den Kapitalismus. Wenn das Wirtschaftssystem so einfach wäre, müssten die Schwierigkeiten auch einfach zu lösen zu sein .


Sandra Ingeving
: Das ist eine Frage von Machtverhältnissen
.

Felicitas Lys : Du sagst es. Und darin liegt meines Erachtens das Hauptproblem. Der Geldadel diktiert den Politikern die Gesetze .

Timo Kersenblösem : Das ist unbestritten. Warum lassen sich Politiker darauf ein? Weil sie irgendwelche persönlichen Vorteile darin sehen. Wieso lassen wir das zu? Weil auch wir mehr Vorteile als Nachteile davon haben. Weil jeder einzelne von uns gerne diejenigen kritisiert, die weit weg sind, die für uns nicht habbar sind und wir wissen sehr genau, was sich alles ändern müsste, aber wehe, es werden unsere Vorteile merklich dabei beschnitten. Der Mensch ist egoistisch und nur sehr bedingt bereit, dauerhaft auf etwas zu verzichten. Wenn er auf etwas verzichten soll, dann muss es in irgendeiner Form einen Ausgleich geben, einen, den er unterstützen kann und sei es die Zukunftssicherung seiner Kinder oder Enkelkinder .


Sandra Ingeving
: Du meinst, was im Kleinen geschieht, ist auch im Großen denkbar
?

Timo Kersenblösem : So ungefähr. In der Politik sitzen Menschen, keine Maschinen, keine Computer. Ich meine, der Witz ist doch, dass Colin Crouch massiv den Neoliberalismus kritisiert, sucht einen Ausweg aus der Sackgasse und wählt dabei den dritten Weg. Er ist im engsten Sinne ein Neoliberaler .


Sandra Ingeving
: Würdest du trotz deiner Kritik das Buch anderen empfehlen
?

Timo Kersenblösem : Durchaus, wobei man die Erwartungen nicht zu hoch schrauben sollte. Letztendlich ist das alles nichts Neues .


Felicitas Lys
: Ich finde das Buch nach wie vor erhellend
.

Sandra Ingeving : Das ist ein schönes Schlusswort. Wir sind am Ende unserer Sendung Let`s talk about… angekommen. Ich bedanke mich bei den Zuschauerinnen und Zuschauern, bei den Zuhörerinnen und Zuhörern für ihr Interesse. Ich bedanke mich auch bei euch beiden für die rege Diskussion .
Wenn Sie mögen, sehen und hören sie uns wieder am 15. Juni 2016. Bis dahin wünschen wir ihnen eine gute Zeit und vergessen sie nicht, Bücher haben Kanten, um das Denken anzustoßen .

Corinna Klein
© read MaryRead

Sachbuch


Colin Crouch: Die bezifferte Welt
Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht
Originaltitel: The Knowledge Corrupters: Hidden Consequences of the Financial Takeover of Public Life
Übersetzung aus dem Englischen : Frank Jakubzik
gebunden
250 Seiten
erschien: 01.09.2015
Verlag: Suhrkamp
ISBN 978-3-518-42505-3
Preis: 21,95 € (D), 22,60 € (A)


Filmbeitrag: ARD – ttt, vom 30.08.2015 :

Quelle ( ): https://www.youtube.com/watch?v=9zatPts2SyM


1 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus


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