„Caspar und der Meister des Vergessens“ von Stefanie Taschinski

Collage: © Ute Fischer

Korrekturen

Zusammenbringung von Fantastischem und Reellem, von Alten und Neuem und das verhängnisvolle Marionettenspiel

Eigentlich sind es für Greta, Caspar und Till paradiesische Verhältnisse. Ihre Eltern betreiben ein sehr erfolgreiches Marionettentheater mit einzigartigen Puppen, die ihresgleichen suchen. Von Kindesbeinen an dürfen die Kinder sich kreativ ausleben, aber wie so oft in Familien, fühlt sich einer zurückgesetzt. In diesem Fall ist es Caspar, der sich nicht ernst genommen fühlt. Seine ältere Schwester Greta ist die Kreativste unter den Dreien, der sechsjährige Till ist noch zu jung und Caspar ist genervt, traurig und wütend, dass er ständig auf seinen Bruder aufpassen soll. Man ahnt es schon: Caspar wird vor einer Herausforderung gestellt, die er meistern muss.

Im Kinderbuch „Funklerwald“ entfaltete Stefanie Taschinski ein Panorama über die Waldtiere in Form einer Fabel , in der es um Freundschaft aber vor allem um Toleranz handelt. Darin zeichnete sich schon ab, dass die deutsche Schriftstellerin eine fantastische Welt erschaffen kann, die eingebettet ist in der Realität.
Der Protagonist in „Caspar und der Meister des Vergessens“ ist der einzige, der in der Realität und sich in der fantastischen Welt zurechtfindet, der die Zusammenhänge zwischen den beiden Welten erkennt und so eine Chance hat, seinen jüngeren Bruder Till dem Vergessen zu entziehen.

Ursprünglich stammt der Magische Realismus aus Lateinamerika, dass aber weltweit sehr schnell übernommen wurde, weil es ganz neue Möglichkeiten bot. In Deutschland haben Autoren wie Michael Ende in „Momo“ und Paul Maar in „Lippels Traum“ den Magischen Realismus eingeführt.
Seit den 1990er Jahren trifft man des Öfteren in der Kinder- und Jugendliteratur auf idyllische Elemente an, die aber häufig ihren romantischen Zug verlieren.

Obwohl die drei Kinder in paradiesischen Verhältnissen aufwachsen mit toleranten und liebevollen Eltern, in einem wunderschönem großen Haus leben, so lastet jedoch auf der Familie ein alter Vertrag, den sie einhalten müssen, ja, sie haben den Vertrag noch nicht einmal selber geschlossen sondern der wurde vor langer, langer Zeit, als sich Frankreich in einer turbulenten revolutionären Zeit befand, genau im Jahr 1789, mit ihren Urururur…großeltern abgeschlossen. Der Vertrag garantiert, dass die Familie bis in alle Ewigkeit erfolgreich mit ihrem Marionettentheater sein wird und im Wohlstand lebt. So wunderbar dieser Vertrag klingt, hat er aber seinen Preis: Alle 50 Jahre kommt der Meister und holt sich das Kind, dass zufällig im „falschen“ Jahr geboren wurde. Eltern und Geschwister vergessen aber, dass es noch ein Familienmitglied gegeben hat, ebenso vergisst das betroffene Kind seine Herkunft und wird im wahrsten Sinne des Wortes zur Marionette.

Psychologie und Pädagogik benennen die Rolle des mittleren Geschwisterkindes sehr ähnlich, wie es im Roman von Stefanie Taschinski beschrieben wird: Das mittlere Kind muss häufig eine Menge aushalten, da das ältere Kind vermeintlich schon zu vernünftig und das jüngere noch zu klein ist und so finden sich diese Kinder oft in der Rolle des „schwarzen Schafes“ wider.
Das Vergessen hat in der Literatur eine lange Tradition. Eines der ältesten Aufzeichnungen darüber findet man in den Apokryphen, als Jeremia die Bundeslade der Israeliten in einem Berg versteckt, die Höhle schließt und anschließend soll dieses Versteck vergessen werden. Seitdem wird die Bundeslade gesucht, aber bisher ohne Erfolg.
Während man oft das 50jährige groß feiert, wird es im Kinderbuch zu einer Brutalität, denn dieser Zeitraum ist zwar zum einen groß genug, um eine Chance zu haben, über den Schmerz hinwegzukommen – auch wenn die Familienmitglieder vergessen, dass sie mal größer waren, so bleibt bei ihnen dennoch ein merkwürdiges melancholisches Gefühl zurück – gleichzeitig ist er zu klein, sodass eine Generation davon verschont bliebe. Ein 50jähriges bestehen der Ehe wird auch als Goldene Hochzeit bezeichnet, aber für die Familie im Roman wird es zu einem schwarzen Tag. Und es wird rabenschwarz:

Die entführten Kinder leben in einem alten Turm, in vergessenen Räumen von Memoria.

Uwe Tellkamp gab seinem Roman über die DDR-Geschichte den Titel „Der Turm“, Rapunzel im Märchen von den Gebrüdern Grimm kann nur mithilfe ihrer langen Haare aus dem Turm befreit werden, und eine der Legenden um die Heilige Barbara erzählt, dass sie von ihrem Vater in einem Turm eingeschlossen wird, um sie an einer Vermählung zu hindern. Zum einen sind Türme oft die höchsten Aussichtsplattformen einer Stadt, zum anderen sind sie meist eng und ihre Mauern sind sehr dick, sodass Hilferufe kaum gehört werden können. Türme sind somit geeignete Mittel in der Literatur. Als Caspar in den Turm des alten Meisters dringt, muss er feststellen, dass Besucher auf die höchste Plattform gehen und eine tolle Aussicht genießen können, sie ahnen aber nicht, dass es noch ganz andere Räume im Turm gibt.
Memoria wird hier ad absurdum geführt, denn Memoria bedeutet Gedächtnis, also ein Ort der Erinnerung. Für die Betroffenen bleibt nur ein großes schwarzes Loch zurück, von dem alles aufgesaugt wird, aber nur einer davon profitiert: der Meister, der die entführten Kinder zu seinen Sklaven macht. Aber es kommt noch dicker:

Im Turm befindet sich außerdem ein Raum mit abertausenden von Aquarien, gefüllt mit silbernen Faltern in verschiedenen Wachstumsperioden. Für ihre Verpuppung verbrauchen sie unzählige Maulbeerblätter, die aber in Dänemark nicht gerade zahlreich vorhanden sind, nur in ausgesuchten botanischen Gärten.

Stefanie Taschinski lässt reale Orte, wie der Turm und den botanischen Garten in ihren Roman einfließen. In Kopenhagen steht der Rundetårn und dort befindet sich auch Botanisk Have.

Der Vertrag wurde, wie damals üblich, in lateinischer Sprache verfasst. Als Caspar endlich den Vertrag findet, seinen ersten Schrecken überwunden hat, die lateinische Sprache übersetzt bekommt, erfährt er, dass es eine Möglichkeit gibt, den Vertrag zu lösen.

Ein weiteres Mal ist es der Schriftstellerin gelungen, ein spannendes und höchst interessantes Kinderbuch vorzulegen, indem die Kinder nicht nur zu Helden werden, sondern auch gemachte Fehler in der Vergangenheit in der Gegenwart korrigiert werden. Aber nicht nur das: verschiedene Lesarten sind möglich, ja, sogar wünschenswert. Stefanie Taschinski ist auf dem besten Weg in den literarischen Olymp aufzusteigen.

– Alice Haase –
© read MaryRead 2017

► Kinderbuch

Stefanie Taschinski: Caspar und der Meister des Vergessens
Illustrationen: Cornelia Haas
Roman
Alter: ab 10 Jahre
288 Seiten
Format ( H x B x T): 215 x 155 x 30 mm
Gewicht: 507 g
erschien: 20.10. 2016
Verlag: Oetinger
ISBN 978-3-7891-0426-8
Preis: 14,99 € (D), 15,50 € (A)

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