Martin Walser wird 90 Jahre alt

Im Zug

Gerade bin ich in Eriskirch in den Zug gestiegen und habe einen Platz am Fenster ergattert. Meine Tasche stelle ich auf dem Nebensitz ab, ziehe meine Jacke aus, schaue dabei ohne festes Ziel ins Abteil, sehe einen älteren Herrn aber nur von hinten und denke „den kenne ich“. Sorgsam lege ich meine Jacke auf die Tasche, mache es mir im Sitz bequem. Endlich kann ich kann ich den älteren Herrn, der ein paar Reihen vor mir sitzt, genauer unter die Lupe nehmen. Sein dünnes weiß-grau-meliertes Haar ist sorgsam gekämmt, er scheint allein unterwegs zu sein, „aber irgendwoher kenne ich ihn – oder täusche ich mich?“ Es wäre super, wenn er seinen Kopf drehen würde und ich sein Gesicht sähe, doch er denkt gar nicht daran, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Seufzend blicke ich aus dem Fenster, an Gärten und Wiesen vorbei, zwischendurch erhasche ich einen Blick von dem glitzernden Wasser des Bodensees. Da sehe ich ein Ehepaar, wie sie in ihrem Garten aufräumen, die Hinterlassenschaften des Winters werden sorgsam auf einem Haufen zusammengelegt. „Das muss er sein“, denke ich, meine Gedanken sind aber schon wieder auf die Geschehnisse gerichtet, die außerhalb des Zuges passieren. „Kenne ich ihn aus dem Fernsehen?“ Der Zug hält an, Fahrgäste steigen aus und ein. An mir geht eine Frau vorbei, nicht besonders groß, ihr halblanges dunkelblondes bis braunes Haar streng zu einem Zopf gebunden. Sie geht zielgerichtet zu dem älteren Herrn, sie begrüßen sich sehr freundlich. „Ist das seine Tochter?“ Ein leises Lachen höre ich von ihr, er lacht jedoch nicht, ich glaube aber, seine Freude drückt sich wohl in einem geduldig-abwartenden Zuhören aus, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet, spricht er über Persönliches, wie jetzt. Ein Zugbegleiter betritt den Abteil und sagt: „Die Fahrscheine bitte.“ Die Köpfe der Fahrgäste senken sich, man kramt nach dem Fahrschein, einige scheinen den quasi parat zu haben, andere hingegen suchen, wenige werden hektisch dabei. „Wenn der Zugbegleiter bei dem älteren Herrn ist, dann muss er seinen Kopf wenden. Vielleicht habe ich dann die Chance sein Gesicht zu sehen.“ Plötzlich entsteht Unruhe. Man hört den Zugbegleiter laut sagen: „Sie sind Studentin? Wo sind Sie denn zugestiegen?“ Die junge Frau nennt den Ort. „Wo wollen sie aussteigen?“, der Ton von ihm ist barsch. Auch diesen Ort nennt die junge Frau. „An welcher Uni studieren sie denn?“ Sie gibt ihm leise eine Antwort. „Schon blöd, wenn man kurz vorm Ziel ist und dann komme ich. Ihre Personalien bitte.“ Sie reicht ihm ihren Personalausweis, er notiert sich die Daten. In der Zwischenzeit betritt eine weitere Zugbegleiterin das Abteil, lässt sich die Fahrscheine zeigen. Beide Zugbegleiter werden zum selben Zeitpunkt mit ihrer Aufgabe fertig, verlassen gemeinsam das Abteil. Ziemlich laut sagt er beim Hinausgehen zu seiner Kollegin: „Dass die immer glauben, wir seien von Gestern. Die! um eine Studentin, so sieht die nicht aus.“ Auch die anderen Fahrgäste hören den Dialog, eher ist es ein Monolog, seine Kollegin erwidert darauf nichts. In der Sitzreihe neben mir schüttelt ein junger Mann den Kopf, auch er findet offensichtlich den Zugbegleiter unerträglich. Mit einem Mal steht die Frau, die neben dem älteren Herrn sitzt, auf, läuft zum Zugbegleiter und sagt: „Sie irren sich. Ich kenne die Studentin.“
Wer sind Sie denn?“ kommt die abfällige Frage.
Neulich war ich an der Universität Gastdozentin und die Frau, die Sie beschuldigen, ist mir durch ihre klugen Fragen aufgefallen.“
Das kann ja jeder behaupten“, allmählich wirkt seine Stimme kleinlaut.
Entschuldigung, ich habe mich nicht vorgestellt. Ich bin es zu sehr gewohnt, dass mich jeder kennt, manchmal vergesse ich aber, dass mich vor allem die Literaturszene kennt. Meine Name ist…“
Blöd, warum sagt sie ihren Namen so leise. Wenn ich weiß, wer sie ist, dann habe ich Gewissheit, wer der ältere Herr ist.

Mehr zu Martin Walser
> Martin Walser und die Gruppe 47

Leise höre ich noch die betretene Entschuldigung des Zugbegleiters. Die Frau setzt sich wieder neben dem älteren Herrn. Ich ziehe den Roman „Ein sterbender Mann“ aus der Tasche, bin zügig in die Handlung versunken, bekomme nicht mehr mit, was um mich herum geschieht, zwischendurch sinniere ich über den Schriftsteller. Vor einigen Jahren las ich von dem selben Autor „Meßmers Momente“, da war ich noch in der Buchhandlung tätig. Es war Sommer, ich lag auf der Wiese, las erwartungsvoll, aber… seine Romane bevorzuge ich dann doch. Sein neuestes Werk „Statt etwas oder Der letzte Rank“ liegt schon zum Lesen auf meinem Schreibtisch bereit. Irgendwie kann ich mich nicht dem Eindruck erwehren, dass er, seitdem sein größter Widersacher und krassester Literaturkritiker tot ist, befreit sich den Themen widmen kann, die ihn zurzeit wirklich bewegen und dabei zur Höchstform aufläuft, ein weiser Mann, der viel erlebt hat und sie gut erzählen kann. Ich erschrecke, als die Durchsage kommt: „In wenigen Minuten erreichen wir Wasserburg am Bodensee.“ Ein paar wenige Fahrgäste machen sich bereit für ihren Ausstieg, auch der ältere Herr und seine Begleiterin. Der Zug hält an. Auf dem Bahnsteig sehe ich eine kleine Ansammlung von Menschen, die Plakate tragen. „Na, das nenne ich mal ein Begrüßungskomitee.“

Auf den Plakaten ist zu lesen: „Herzlichen Glückwunsch“, „Wir wünschen Dir viel Gesundheit“, „Danke für Deine tollen Bücher“, „Alles Gute zum 90. Geburtstag lieber Martin Walser“.

– Rosa Stein –
© read MaryRead 2017

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