Tag der Deutschen Sprache 2017

Das leichte Handgepäck

Eine vorsichtige Bestandsaufnahme

Irgendwann stößt man unweigerlich auf „besondere“ Tage, es ist wie Murphys Gesetz, die Bezeichnungen tragen wie „Tag der Deutschen Sprache“. Seit jeher bereiten mir solche Tage und Bezeichnungen Kopfschmerzen, da es mich nur allzu sehr an nationalistischer Tümmelei erinnert, so wie es jedem, der einen Funken Geschichtsbewusstsein in sich trägt, ergeht oder müsste ich eher fragen: dem sollte es so ergehen? Das Wiederaufflammen nationalistischem Gedankengut (hierbei meine ich all die negativen Komponenten) beobachte ich kritisch und mit Sorge und es mir egal, in welchem Kulturraum dieses Gedankengut geschürt wird, da es zum Ausschluss sämtlicher Gruppen führt, die man für jeden Missstand verantwortlich macht und letztendlich vor Verfolgung nicht zurück schreckt, es ist mir egal, in welchen Ländern das Nationalbewusstsein hervorgehoben wird, ob es in den USA, Südafrika, Russland, Türkei, Ungarn, Polen oder hierzulande geschieht. Ich lehne jegliche Art von nationalistischer Tümmelei mit großer Inbrunst ab. Wenn ich doch solch ein großes Problem mit dem nationalistischem Getue habe, wieso schreibe ich dann überhaupt einen Artikel zu solch einem Tag? Die Antwort ist einfach und doch kompliziert: Weder halte ich es für sinnvoll, solche Tage den Nationalisten zu überlassen noch ist es so, als hätte die Medaille nicht auch eine Kehrseite.

Spätestens seitdem ich Artikel für die Öffentlichkeit verfasse, ist mir bewusst, dass ich nur die eine Sprache habe, alle weiteren Sprachen, die man vermeintlich beherrschen sollte, sind bei mir, im Vergleich zur deutschen Sprache, nur rudimentär vorhanden, habe ich sie doch von Kindesbeinen an gelernt, kenne jegliche Spielarten und Feinheiten, zuweilen gelingt es mir Etwas auf den Punkt zu bringen, nur in dieser Sprache fühle ich mich sicher und vielleicht auch heimisch. Wohin ich auch reise, die deutsche Sprache nehme ich überall mit, selbst dann, wenn ich mich in einer anderen Sprache unterhalte. Leichtes Handgepäck mit schwerem Gewicht, weiß ich doch, dass jedes Wort etwas Tröstendes und zugleich eine Waffe sein kann, weiß ich doch, dass jedes Wort in einem autoritärem Staat direkt ins Gefängnis führen kann ohne zuvor die Chance zu bekommen, über das Los zu gehen, weiß ich doch, dass jedes Wort eine Klassifizierung eines Tathergangs möglich macht und zugleich als Begründung für Ungerechtigkeit dienen kann. Terrorismus ist so ein Wort. Während die einen Tötung von Menschen als legitimes Mittel für ihre Mission betrachten (sei es vor etwa vierzig Jahren die RAF, seien es in früherer Zeit die Missionierung durch die Christen oder heute die Islamisten), so ist das für die anderen ein terroristischer Akt. Und dann gibt es noch jene, die aus dem Wort Kapital schlagen, indem sie alle, die nicht für einen sind, inflationär als Terrorist beschuldigen.
Über den inflationären Gebrauch von Wörtern könnte man ein Kapitel, wenn nicht gar ganze Bücher widmen. Jüngst wurde die Bezeichnung „Fake News“ in Umlauf gebracht, inzwischen wird es kaum noch jemand in den Mund nehmen, da es durch den hohen Gebrauch durchgelutscht und ausgebrannt ist, dabei existierte es nur ein paar Wochen. Ähnlich erging es dem Wort „Gutmensch“ bis es im Januar 2016 als „Unwort des Jahres 2015“ gewählt wurde, seitdem ist es nahezu verschwunden. Wir bräuchten endlich eine Diskussion darüber, wie und wann welche Art von Worten sinnvoll sein können, welche Bedeutung sich hinter den Bezeichnungen verbergen, wo die feinen Linien zwischen ähnlichen Worten und Bedeutungen liegen, ansonsten wird es uns eines Tages wie im Bilderbuch Die große Wörterfabrik von Agnès de Lestrade ergehen, wir werden immer weiter neue Worte produzieren und nach Verschleiß wegschmeißen, sie werden uns ähnlich wie der Sand durch die Finger rinnen und wie der enorme Verbrauch von Sand, der unsere Strände schmaler werden lässt, Inseln ganz verschwinden, wird sich unser Wortschatz reduzieren, das Ergebnis kennen wir: George Orwell hat es in seinem Roman „1984“ geschildert.

Meine Motivation für die Verfassung des Artikels beziehe ich auch von dem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, der in diesem Jahr 100 Jahre alt werden würde. Heinrich Böll hielt Dezember 1974 die Rede „Ich bin ein Deutscher“ auf dem 39. Internationalen PEN-Kongress in Jerusalem, also in einer Zeit, in der Deutschsein in den Schriftstellerkreisen und unter Intellektuellen verpönt ist, an einem Ort Stellung bezieht, deren Bewohner das große Verbrechen durch die Deutschen an ihrem Volk noch in schmerzhafter Erinnerung haben. Zugleich gehört Heinrich Böll zu jenen, dem schmerzlich bewusst war, was es heißt, Deutsch zu sein, der mit der Sprache rang, der Worte auf die Goldwaage legte, der vielleicht gerne eine andere Sprache benutzt hätte aber feststellen musste, dass er nur die eine Sprache hat. Einige Aspekte seiner Rede sind in diesen Artikel mit eingeflossen.

Nur in der Hoffnung, dass man versteht, dass, ganz gleich welche Sprache man benutzt, die eigene Sprache das leichte Handgepäck ist; in der Hoffnung, dass man versteht, das keine Sprache besser ist als eine andere und in der Hoffnung, dass Worte keine Waffen darstellen sollten, konnte ich diesen Artikel schreiben.

– Andreas Wagemut –
© read MaryRead 2017

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