Tagesgedicht – Montag, 27. Juni 2016

Mütter Amerikas

lasst eure Kinder ins Kino gehen !
scheucht sie aus dem Haus so dass sie nicht ahnen was ihr vorhabt
es ist wahr dass frische Luft gut für den Körper ist
doch wo bleibt die Seele ?
die im Dunkeln wächst, getrieben von silbernen Bildern
und wenn ihr alt werdet da ihr doch alt werden müsst
werden sie euch nicht hassen
sie werden euch nicht kritisieren sie wüssten gar nicht wie
sie werden ein glamouröses Land bewohnen
das sie zuerst an einem Samstag Nachmittag oder beim Schwänzen kennenlernten
sie könnten euch sogar ihre
erste sexuelle Erfahrung verdanken
die nur einen Nickel kostet
und das ruhige Heim nicht stört
sie werden wissen wo Süßigkeiten herkommen
und kostenlose Popcorntüten
so kostenlos wie das Verlassen des Films bevor er vorbei ist
mit einem angenehmen Fremden dessen Appartment im Himmel auf Erden Gebäude ist
unweit der Williamsburg Bridge
oh Mütter ihr werdet die kleinen Lümmel
so glücklich gemacht haben da sie falls sie doch niemand im Kino aufreißt
nicht den Unterschied kennen werden
und wenn’s doch jemand tut ist es die schiere Freude
und wie es auch sei sie werden wirklich unterhalten worden sein
statt dass sie im Garten rumhängen
oder oben in ihrem Zimmer
euch vorbeugend
hassend wo ihr ihnen doch noch nichts fürchterlich Schlimmes angetan habt
außer eben jenes: sie von den dunkleren Freuden fernzuhalten
was zuletzt unverzeihlich ist
also macht mich nicht verantwortlich dafür wenn ihr diesen Rat nicht annehmt
und die Familie zerbricht
und eure Kinder alt und blind werden und vor einem Fernsehapparat Filme sehen
die ihr sie nicht sehen ließt als sie jung gewesen

Frank O’Hara

* 27.06.1926, Baltimore, USA
25.07.1966, Long Island, USA

Frank O’Hara ist neben John Ashbery der wichtigste Vertreter der so­genann­ten ersten Gene­ration der New York School .
Nach seiner Rück­kehr aus dem Zweiten Weltkrieg studierte er in Harvard. Zu seinen Einflüssen gehören neben der Musik, Malerei und Popkultur der Jahrhundertmitte auch die französischen Symbolisten und in beson­derem Maße Boris Pasternak. Anfang der 50er Jahre zog Frank O’Hara nach New York und arbeitete dort für das Museum of Modern Art, ab Anfang der 60er Jahre als Kurator. Er war wie die anderen Dichter der New York School mit vielen Malern des abstrakten Expres­sionis­mus befreun­det. Zu seinen berühm­testen Gedichten gehören „Why I am Not a Painter“, „The Day Lady Died“ und das kürzlich in der erfolgreichen Fernsehserie Mad Men zitierte „Meditations in an Emergency “.
Zu Lebzeiten publi­zierte O’Hara nur wenige kleine Bände, der Großteil seines Werkes wurde erst bei der Zusammen­stellung der Collected Poems durch seinen literarischen Nachlaßverwalter Donald Allen und seinem Verleger zu­sammen­getragen. In Deutsch­land wurde O’Hara durch die Über­setzung des Gedichtbands Lunch Poems durch Rolf Dieter Brinkmann bekannt .

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