„Ostende“ von Volker Weidermann

Das letzte Mal

Die herbei gewählte Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist schon im Gange. Erste Verhaftungen, Folterungen und Todesurteile finden statt. Einige Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller ahnen im vierten Jahr der Nazidiktatur, dass dies nicht der Höhepunkt ist. Einigen von ihnen ist nur allzu deutlich, dass auch sie bald die nächsten sein werden, über die ein Todes urteil gesprochen wird. Sind sie vor 1933 noch hoch gelobt worden, so befinden sie sich nun im Freien Fall. Sich noch einmal treffen an einem schönen Ort außerhalb der deutschen Grenzen. „Ostende“ bietet sich an, findet Volker Weidermann .

Volker Weidermann erzählt in seinem Buch „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft “ über die Schriftsteller, die vor allem in der Weimarer Republik bekannt geworden sind. Es handelt sich um Schriftsteller wie Stefan Zweig und Joseph Roth, Egon Erwin Kisch, Hermann Kesten und Irmgard Keun, um ein paar zu nennen.
In diesem letzten gemeinsamen Treffen schwingt immer die Frage mit, wie es weitergehen soll. Sie haben individuelle Lösungen wie Ausreise – Stefan Zweig wird nach Brasilien fahren – oder inneres Exil – Irmgard Keun bleibt mit falscher Identität in Deutschland –, der Selbstmord wird nicht ausgeschlossen – Ehefrau von Ernst Toller muss auf all seinen Reisen immer einen Strick einpacken. Sie kämpfen gegen die Angst, Depression (notfalls mit viel Alkohol) und ums Überleben.

Das vorliegende Buch ist eine Mischung aus Essay und historischen Roman . Neben den Neuformierungen von Partnerschaften, geht es natürlich auch um die Literatur, um Charaktereigenschaften der einzelnen Handlungsträger.
Das Lesepublikum bekommt einen Überblick der Literatur und Autoren der Weimarer Republik. Joseph Roth kämpft ständig um sein finanzielles Überleben, wobei ihn Stefan Zweig, der durch seine Bücher reich geworden ist, ihm unter die Arme greift. Die Freundschaft zwischen den beiden hat Risse bekommen. Irmgard Keun als junge selbstbewusste Frau lässt sich auf eine Beziehung mit Joseph Roth ein und man fragt sich, warum? denn „Sie kennt inzwischen alle seine Bücher. Er kennt keins von ihren.“ 1 Thomas Mann ist für alle Urlauber ein Thema zum Tratschen, für einige ein rotes Tuch.
Nur wenige Autoren werden das Dritte Reich als Mensch und literarisch überleben. Joseph Roth stirbt am 27.05.1939 in Paris, wenige Tage nachdem er erfahren hat, dass Ernst Toller sich am 22.05.1939 in New York „das Leben genommen hat.“ 2 Stefan Zweig begeht am 23.02.1942 in Brasilien Selbstmord. Irmgard Keun überlebt als Mensch, wird aber als Schriftstellerin völlig vergessen und erst Ende der 1970er Jahre wird sie wieder neu entdeckt, doch bald darauf stirbt sie.
All diese Schriftsteller verbindet das Verbot ihrer Bücher in Deutschland und sie sind somit um ihre Lebensgrundlage beraubt.

Volker Weidermann wird am 06.11.1969 in Darmstadt geboren, studiert Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg und Berlin .
Der Schriftsteller beschäftigt sich in seinen Büchern mit der jüngeren Deutsche Literaturgeschichte wie beispielsweise in „Lichtjahre“ und widmet sich dabei auch den Autoren, die durch das Dritte Reich in Vergessenheit geraten sind wie in „Das Buch der verbrannten Bücher“ 3 . Für dieses Sachbuch ist er mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet worden.
Er arbeitet zurzeit als Feuilletonchef bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und lebt in Berlin.

Das Buch ist in einem leichtflüssigen Stil geschrieben, gespickt mit Anekdoten. Manchmal schimmert der Humor durch, wie zum Beispiel „Er 4 gehe nicht ins Meer, schließlich gingen die Fische ja auch nicht ins Caféhaus, sagte er gerne.“ 5 , dass auch eine schwarze Färbung haben kann, wie die folgenden Zeilen: „Sein 6 Zimmer sehe aus wie ein Sarg. »Bedenken Sie, dass man nie weiß, wann man das letzte Mal irgendeinen sieht. […]«“ 7
Es gibt Dialoge, Rück- und Zukunftsausblicke, Inhaltsangaben zu einzelnen Werken und kurze Briefausschnitte zwischen den befreundeten Autoren. Der auktoriale Erzähler sieht die Verflechtungen und inneren Auseinandersetzungen, bewertet sie aber nicht.
Man kann Zusammenhänge zwischen Erlebnisse und Werke herstellen. Die erste Reise von Stefan Zweig nach Südamerika beispielsweise könnte die Vorlage für „Schachnovelle“ gewesen sein und Egon Erwin Kisch die Schlüsselfigur für den Schachspieler .

Im Sommer 1936 ist Ostende für alle Schriftsteller, die sich in dieser schönen belgischen Stadt treffen, die letzte Zusammenkunft, um zu diskutieren, sich auszutauschen, zu beratschlagen .
Volker Weidermann gibt den Blick hinter die Kulissen frei, bringt einem die Zeit des Naziterrors näher und zeigt vor allem, dass das innere sowie das äußere Exil für die meisten Künstler das Aus ihres Schaffens bedeutet .

– Astrid Meyer –
© read MaryRead

Belletristik


Volker Weidermann : Ostende
1936, Sommer der Freundschaft
Essay-historischer Roman
160 Seiten
gebunden
1. Auflage: 08.03.2014
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04600-7
Preis: 17,99 € (D), 18,50 € (A)

Angaben zum Taschenbuch:
160 Seiten / Taschenbuch / 1. Auflage: 10.08.2015 / Verlag: btb
ISBN 978-3-442-74891-4 / Preis: 8,99 € (D), 9,30 € (A)


Kurzes rein hören in das gleichnamige Hörbuch :


1 Volker Weidermann: Ostende. 1936, der Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer und Witsch – Köln – 2014, S. 104
2 Ebenda, S. 152
3 Lesenswert: http://www.deutschlandfunk.de/dokument-gegen-das-vergessen.1310.de.html?dram:article_id=193583
4 Joseph Roth ist gemeint (Anmerkung der Literaturkritikerin)
5 Volker Weidermann: Ostende. 1936, der Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer und Witsch – Köln – 2014, S. 48
6 Joseph Roth ist gemeint (Anmerkung der Literaturkritikerin)
7 Volker Weidermann: Ostende. 1936, der Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer und Witsch – Köln – 2014, S. 48


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