„Eine Geschichte ohne Ende“ von Marcelo Pimentel

Ausschnitt aus dem Bilderbuch, Collage: © Ute Fischer

Ein brasilianischer Zwerg

Ende der 1980er Jahre wurde landauf und landab das Lied „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ von Stephan Remmler geträllert, dabei ahnte man nicht, dass hierbei ein Irrtum vorliegt. Es gibt nämlich Eine Geschichte ohne Ende , die im Bilderbuch von dem Brasilianer Marcelo Pimentel erzählt wird .

Das Pappbilderbuch kommt nahezu ohne Worte aus, bis auf den sogenannten Anhang, der hilfreiche Informationen liefert und einen dennoch mit Fragen zurücklässt, da man an die Grenze des Kulturwissens gelangt. Im Anhang steht unter anderem geschrieben: „So steht in diesem Buch die Figur des Curupira im Zentrum.“ Wer oder was ist Curupira ?
Vor fast drei Jahren war das Land Brasilien Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Im Vorfeld gab es einige Informationen über den südamerikanischen Staat, welche Sprache sie haben ( portugiesisch ) , wie die Menschen heutzutage leben und über deren Historie. In den Geschichtsbüchern wird mit der Kolonialherrschaft der Portugiesen begonnen, über die indigene Bevölkerung erfährt man so gut wie nichts. Im Vergleich zu den mittelamerikanischen Staaten wie Mexiko scheint es in Brasilien keine Indianer-Hochkultur gegeben zu haben .

Selbst bei rudimentären Kenntnissen über die präkolumbianische Zeit in Brasilien, kann man in den Darstellungen von Marcelo Pimentel erkennen, dass es sich um Illustrationen aus der indianischen Kultur handelt. Indianische Kunst neigt zu kantischen Darstellungen wie im interkulturellen Bilderbuch Eine Geschichte ohne Ende . Die Affen beispielsweise haben einen rechteckigen Körper und die Baumstämme ragen wie mit einem Lineal gezogen, ihre Krone gen Himmel. Außerdem deutet die indianische Kultur ihre Figuren lediglich an, sie gibt nur so viel an Details preis, wie es für den Betrachter nötig ist, um das Abbild zu verstehen. Zudem wirkt die indianische Kultur aus der Sicht der Europäer klobig, die uns das Gefühl vermittelt, viel Raum einzunehmen, so als würde sich jemand mitten unter Menschen stellen und laut sagen: „Hier bin ich“, mit dementsprechender Gestik. Aber die indianische Kultur lebt von etwas, das uns fremd ist: So ziemlich jede Pflanze und jedes Tier wird einer Gottheit zugeordnet, die Gut oder Böse, zuweilen auch beides ist. Diese Denkweise hat Auswirkungen, denn man sieht darin mehr, als die nüchterne wissenschaftliche Erkenntnis. Der Baum zum Beispiel gilt als Verbindung zwischen dem Unterirdischen (Wurzeln) und dem Kosmischen (Baumkrone ). 1 Marcelo Pimentel hat entweder die Baumstämme mit geometrischen Figuren oder die Baumkrone mit verschiedenen Zeichen ausgeschmückt. Somit sind die Tiere oder Pflanzen mit weiterer Symbolik aufgeladen, die für Kenner Metaphern sind. Auch das ist uns eher fremd .
Um diese Symbole zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick in den Alltag der indigenen Bevölkerung zu werfen. Einige indigene Kulturen stellen bis heute ihre Kleidung selber her und weben dafür die Stoffe. Zum einen werden Motive in die Stoffe gewebt, die entweder eine historische oder eine mythische Bedeutung haben, die zum „Warenlager von detaillierten Schlüsselwörtern“ werden 2 . Zum anderen gehen sie davon aus, dass durch den Vorgang des Webens die eigenen Gedanken sowie die kosmischen Gesetze mit in den entstehenden Stoff verwoben werden . 3
Unabhängig davon, ob auch in der brasilianischen indigenen Kultur das Weben eine große Rolle im Alltag inne hat, so bleibt der Vorgang der persönlichen Gedanken eingebettet in den kosmischen Gesetzen derselbe. Im Bilderbuch Eine Geschichte ohne Ende wird es in der Fußleiste angedeutet sowie in den Figuren, die es zu entschlüsseln gilt. Die Bildergeschichte beginnt kurz vor Sonnenaufgang, gleitet in den Tag hinüber, der mal Sonnenschein, mal Regen im Gepäck hat. Die Überleitungen werden häufig durch ein Schwanzende eines Tieres oder durch einen halben Baum, das auf der nächsten Seite vervollständigt wird, geschaffen. Ganz allmählich entfaltet sich dabei eine Erzählung, die immer wieder neu mit anderen Sichtweisen gefunden werden will. Je nach eigener Verfassung kann man die Farbe rot beispielsweise als Wasser oder als ein Leuchten wahrnehmen und der Rest der Geschichte passt sich automatisch an die Gefühlslage des Betrachters an .
Im engen Sinne hat die Geschichte weder einen Anfang noch ein Ende, im Gegenteil, sie lädt dazu ein, die eigene Phantasie anzustrengen .

Kann man solch ein Kinderbuch einem Kind zumuten? Ein entschiedenes JA, aus einem Grund: Indianische Zeichnungen entsprechen der „Vorstellungswelt eines Kindes“, dass heißt, es beinhaltet die Geschichte der Entwicklung des indiviuellen Bewusstseins . 4 Aufgrund dessen wird Kindern das Bilderbuch von Marcelo Pimentel nicht so exotisch vorkommen wie uns Erwachsenen .

Die Jury des diesjährigen Komittes für den Deutschen Jugendbuchpreis hat das Pappbuch Eine Geschichte ohne Ende in der Kategorie Bilderbuch nominiert, mit folgender Begründung des Arbeitskreises für Jugendliteratur e.V .:
Jurybegründung :
Schon auf dem Titelbild stolpert man in diese textlose Bildgeschichte hinein. Ohne Worte schleichen, flattern, hüpfen, trampeln und krabbeln Tiere des brasilianischen Urwalds nacheinander durch das Pappbilderbuch. Der Autor pinselt schwarze Piktogramme auf braunen Karton und lässt die Szenerie wirken wie einen quirligen Tanz des Lebens. Doch dann taucht eine Hand auf, die rote Farbe an den Fingern hat. Sie gehört dem sagenumwobenen Wesen Curupira, das die Tiere und Pflanzen des Urwalds beschützt. Es zeichnet allen Tieren Ornamente auf Panzer, Federn und Fell und malt den Bäumen und Pflanzen rote Blätter .
Die
Geschichte ohne Ende erzählt vom Kreislauf der Natur, vom Sonnenaufgang bis zur Nacht. Durch einen hohlen Baum am Ende des Buchs gelangen die Tiere über ein Loch in der Umschlagseite wieder zurück zum Anfang der Geschichte, und sie beginnt von neuem. Die schematischen Darstellungen fordern zum Erraten und Benennen der einzelnen Tiere auf und machen auch ohne das Wissen um den mythologischen Hintergrund neugierig auf eine fremde Welt. Denn Pimentel greift die klare und reduzierte Bildsprache lateinamerikanischer Kunst auf und vermittelt damit die Sicht auf eine andere Kultur .“ 5

Dieses Bilderbuch hat noch einen Vorteil: Da es ohne Worte auskommt, können die Geschichten in jeder Sprache gefunden und erzählt werden .

Laut Wikipedia handelt es sich bei Curupira um eine Gestalt aus Tupi-Guarani-Mythologie. Der Zwerg mit seinen roten Haaren und seinen leicht verdrehten Füßen beschützt die Wälder und die wilden Tiere. Tupi und Guarani sind Ethnien, die in Brasilien ihre Heimat haben. Im Bilderbuch wird die Figur aus indianischer Sicht dargestellt, die weder kitschig noch romantisch gezeigt wird . 6

Eva Wespe
© read MaryRead

Kinderbuch


Marcelo Pimentel : geboren 1969 in Rio de Janeiro / Brasilien, absolvierte seine Ausbildung zum Illustrator und Grafiker an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro . Für Eine Geschichte ohne Ende wurde Pimentel mit dem Grand Prix des Nami Concours 2015 ausgezeichnet .

Quelle ( biographische Angaben und Porträt , ) : http://www.baobabbooks.ch/fileadmin/autoren/Pimentel_Marcelo__Portrait.jpg


Marcelo Pimentel : Eine Geschichte ohne Ende
Originaltitel: O fim da fila
Illustration: Marcelo Pimentel
Bilderbuch
Alter : ab 2 Jahre / 20 Seiten
gebunden, Pappbilderbuch
erschien: 28.08.2015
Verlag: Baobab Books
ISBN 978-3-905804-64-5
Preis: 14,90 € (D), 15,40 € (A)


1 Udo Becker: Lexikon der Symbole. Mit über 900 Abbildungen, Herder Verlag – Freiburg – Basel – Wien, 2006 (7), S . 36
2 Gerardo Reichel-Dolmatoff: Das schamanische Universum. Schamanismus, Bewußtsein und Ökologie in Südamerika; Eugen Diederichs Verlag – München 1996, S. 96
3 Ebenda, S. 102f.
4 Ebenda , S. 38f.
5 Deutscher Jugendliteraturpreis , Nominierungen 2016, Bilderbuch ; Abbildungen: Jury und Maskottchen, zuletzt abgerufen am 25.05.2016
6 Vgl. Wikipedia : Curupira ; zuletzt abgerufen am 25.05.2016


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