Herta Müller las aus ihrem Buch „Vom Hungerengel“

Foto: © Simone Jawor

Von Brüchen und von Besessenheit
Herta Müller liest in Köln

Ein Gespräch mit einer Autorin muss von der Sprache handeln. Wovon sonst? Das geschieht unabhängig von der Intention der Veranstalter, unabhängig von einem Motto, einem Thema oder irgendeiner Vorgabe, sondern gehört zum natürlichen Lauf der Dinge. Autoren reden so natürlich von der Sprache wie kein Börsianer von Aktienkursen sprechen kann, denn diese wohnen nicht in ihm. Die Autorin Herta Müller macht sich im Gespräch für die Alltagssprache stark, es gäbe keine andere. Es gäbe eben nur diese Alltagssprache, die dadurch, dass sie ungewöhnlich zusammengesetzt wird schließlich anfängt zu glitzern. von sich selbst, sie habe sich, als sie anfing zu schreiben, nie als Schriftstellerin begriffen, sie habe einfach geschrieben, für sich selbst. So natürlich die Sprache zu ihr kam, scheint sie seither auch wieder in neue Kanäle aus ihr herauszuströmen. Und doch: zu sagen in einem Gespräch mit Literaten ginge es um Literatur und Sprache ist profan. Um was soll es sonst gehen? Um was ging es eigentlich in jenem Gespräch zwischen Ernest Wichner und Herta Müller? So vieles ist Thema an diesem Abend, zuweilen ist eine Linie nicht zu erkennen .
Wer sich nur ein wenig für Literatur interessiert kennt Herta Müllers Namen, eine Begleiterscheinung des Literaturnobelpreises, den sie 2009 verliehen bekommen hat. Die Veranstaltung in der Zentralbibliothek Köln am 19. November 2015 , bei der Herta Müller mit Ernest Wichner ins Gespräch kommt, markiert den Vorabend einer weiteren Preisverleihung: Müller soll den Heinrich-Böll-Preis 2015 der Stadt Köln erhalten 1 . Beide Veranstaltungen sind ausgebucht, ein weiterer Nebeneffekt großer Preise .
Doch außer Bekanntheit bringen Preise auch Vorstellungen, feste Bilder, Assoziationen, wenn es heißt „da schreibt jemand über Diktatur…“. Ernest Wichner und Herta Müller sind Schicksalsgenossen, wenn das Wort erlaubt ist, in Maßen. Beide wurden in Rumänien geboren, befinden sich seit den 70er bzw. 80er Jahren in Deutschland und leben in der, mit der und von der Literatur. Wichner ist Autor, Literaturkritiker, Übersetzer aus dem Rumänischen und leitet seit 2003 das Literaturhaus Berlin. Auch das ist Thema des Abends, Rumänien, die Anfänge .
Wichner scheut nicht die harten Brüche. Die Themen, über die er sprechen möchte, hat er sich zurecht gelegt, aber sie weigern sich ineinander zu fließen, so ist gleichsam der Stil des Gesprächs auch Repräsentant des Inhalts: Brüche. Brüche sind nicht die thematische Vorgabe des Abends und doch ziehen sie sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Bereiche. Ein Bruch, auf den Müller aufmerksam macht und den sie zuvor in einem offenen Brief an Kanzlerin Merkel thematisiert hat, betrifft den Gebrauch des Wortes „Heimatvertriebene“. Der Begriff wurde und wird in Deutschland verendet um jene Personen zu fassen, die ihre damalige Heimat im 20. Jahrhundert verlassen mussten um nach Deutschland überzusiedeln. Müller weist aber auf die Ungerechtigkeit hin, dass jene, die vor Hitler fliehen und ihre Heimat Deutschland verlassen mussten, von diesem Terminus nicht erfasst werden, für sie bleibt der Begriff „Exilanten“ vorbehalten. Müller nimmt diese Beobachtung als Anlass zu einem Plädoyer für ein Umdenken und schildert eindringlich die Bedeutung gerade jenes Exils für die Flüchtenden aus Deutschland heraus. Auch sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben, es kommt ihnen aber nicht zu diesen Umstand in Sprache manifestiert zu sehen, was wiederum auf die Denkweise der Bevölkerung verweist und auf die Spannungen im Verhältnis zu den Hitlerflüchtlingen, die letztlich historisch kaum aufgearbeitet wurden .

Foto: © Simone Jawor

Es geht auch um die Brüche, die Herta Müller in ihrem Leben vollzieht, der Weg vom Dorf in die Stadt, von Rumänien nach Deutschland. Gleichsam geht es um die Brüche in der Biographie Oskar Pastiors, von denen Herta Müllers Nobelpreis-Buch Atemschaukel handelt. So geht es aber auch immer um die Brüche innerhalb dessen, was wir Welt nennen. Brüche, die durch Diktaturen hervorgerufen werden zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen sich und der Umwelt, zwischen Denken und Handeln, Brüche, die in der Literatur wieder verwachsen, oder zumindest bearbeitet werden können. Im Gespräch offenbart sich: Begleiter solcher Brüche ist oft eine kleine oder größere Form von Besessenheit. Sie offenbart sich beispielsweise in Müllers Beschreibungen der Zensur, die ihr literarisches Erstlingswerk Niederungen 1982 in Rumänien durchlaufen musste. Hier offenbaren sich bei den Zensoren gleich mehrere Besessenheiten zugleich: von Prestige, Dominanz, Profilierung und Dienstbarkeit, die schief erscheinen im Prisma der Bruchstelle. Besessenheit ist ist aber auch die Konsequenz für die, die die Brüche deutlich erleben. Es berührt den Zuhörer die Schilderung einer Reise, die Müller und Wichner 2003 gemeinsam mit Oskar Pastoir unternahmen, um das Lager, das in Atemschaukel thematisiert wurde, wiederzufinden. Im Gedächtnis bleibt die Besessenheit Pastiors vom Essen bei der Rückkehr an den Ort, der für ihn einstmals den Hunger bedeutete. Es wird klar, dass Pastior sein Leben lang besessen blieb von jenem Hungerengel, dem Müller in Atemschaukel eine Gestalt zu geben versucht. An diesem Abend liest Herta Müller aus ihrem Roman den Abschnitt Vom Hungerengel , die Formulierung „Vom…“ eine Reminiszenz an Pastoir, der diese Formulierung bevorzugte. Müller spricht über die „Intimität der Beschädigung“, die sie an Pastior beobachten konnte, die er in seinen Träumen erlebte und die er ihr schilderte. Sie ist aber ein allgemeines Merkmal und verweist auf die Brüche innerhalb des Menschen selbst, vielleicht sogar auf sein Zerbrechen .
Und letztlich, so zeigt sich, ist auch Herta Müller selbst besessen und benennt dies im Gespräch ganz klar als eine Folge ihrer Erlebnisse in der Diktatur, sie ist besessen von Sprache, den Wörtern, der Möglichkeit sich auszudrücken. Müller beschreibt ihre Arbeit mit Wörtern, die sie aus Zeitungen, Magazinen und Prospekten ausschneidet, um daraus postkartengroße Kollagen zusammenzufügen. Müller selbst nennt es eine Besessenheit und publiziert auch ihre Kollagen. Das suchen und Ausschneiden der Wörter, ihr Aufbewahren, das Rearrangieren von sprachlichen Versatzstücken erfordert über die Zeit das Entstehen einer eigenen Sprachwerkstatt mit Möglichkeiten der Unterbringung und Ausbreitung. Man versteht, dass Sprache für eine Autorin nicht nur ihr natürliches Element ist, sondern auch der Ort konkreter handwerklicher Kunstfertigkeit und man hofft im Stillen, während man die in Köln präsentierten ausgewählten Kollagen auf einen Schirm projiziert sieht, dass Müller nicht allzu bald von ihrer Besessenheit kuriert wird .

– Simone Jawor –
© read MaryRead

Bordbuch


Herta Müller: Von der Macht der Sprache (Sternstunde Philosophie, 02.01.2011):

Quelle : https://www.youtube.com/watch?v=WvCR8JEoExI


Herta Müller: Hunger und Seide
Essays
192 Seiten
gebunden
1. Auflage: 29.01.2015
Verlag: Hanser
ISBN 978-3-446-24765-9
Preis: 18,90 € (D), 19,50 € (A)


1 Die Stadt Köln verleiht den Preis, der aus dem Kölner Literaturpreis hervorgegangen und nach dem Kölner Ehrenbürger und Nobelpreisträger Heinrich Böll benannt wurde seit 1985. Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert. Dies Preisverleihung 2015 findet am Freitag den 20. November 2015, um 18.30 Uhr im Historischen Rathaus (Piazzetta) statt. Der Preis wird übergeben von der Oberbürgermeisterin Henriette Reker.


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